Das Erbe Der Loge: Roman
Wegbereiter für die spätere »Arisierung« mit all ihren Folgen.
»Was an diesem Buch so interessant ist?«, überlegte Hannah laut. »Wie soll ich Ihnen das erklären, ohne Ihnen erst einen Exkurs im Alt-Hebräischen geben zu müssen.«
»Bloß nicht«, wehrte ich ab. Ohne Computerschreibprogramm hatte ich noch nicht einmal die neue deutsche Rechtschreibung verinnerlicht.
»Können Sie sich vorstellen, dass es Schriften gibt, die ohne Vokale auskommen?«, versuchte sie es dennoch.
Nein, das konnte ich beim besten Willen nicht.
»Dennoch ist es so. Die heiligen Bücher Moses und die Ur-Thora sind so abgefasst. Zwar verwendet man Vokale im Hebräischen beim Sprechen, sie werden nur nicht als unmittelbare Buchstaben dargestellt.«
»Und wie versteht man die?«, fragte ich zweifelnd, während ich mir in Gedanken die Möglichkeit ausmalte, nur mit Konsonanten sinnvolle Wörter bilden zu können.
Hannah lächelte geheimnisvoll, als wollte sie sagen: Na also, Peter. So blöd bist du ja doch nicht.
»Das ist das Geheimnis und der Streit von Schriftgelehrten und Kabbalisten, die heute noch nach einem gemeinsamen Nenner suchen, an welcher Stelle welcher Vokal einzusetzen ist, damit die Botschaft einen eindeutigen, für alle gleich gültigen Sinn bekommt.«
Gehört hatte ich schon von Thora- und Talmudschulen in Jerusalem. Dass die sich aber um die Platzierung von Vokalen stritten, war mir neu.
»Und was stimmt dann an Ihrem Buch nicht?« Denn nach diesem Vortrag war es offensichtlich, dass sie auf etwas dergleichen hinauswollte.
Sie zündete sich wieder eine Zigarette an und blies den Rauch nachdenklich in die Luft.
»Es ist eine Zusammenfassung des ersten Buches der Thora. Aber da, wo Vokale einen Sinn ergeben könnten, werden Markierungen benutzt, die völlig sinnlos sind. Und ich kenne keine andere Sprache der Welt, in der Umlaute wie im Deutschen mit zwei Pünktchen obendrauf geschrieben werden.«
»Und das halten Sie für einen Code?«, fragte ich, immer noch zweifelnd.
»Anfangs nicht«, fuhr sie leiser fort und hielt die Hand mit der Zigarette vor den Mund, als wolle sie verhindern, dass ihr jemand im Lokal von den Lippen ablesen konnte. »Bis ich ein Foto fand, das eine Gruppe von deutschen Offizieren einer Ausbildungskompanie aus dem Jahr 1935 zeigte. Unter anderem war mein Großvater darauf zu sehen. Verstehen Sie jetzt den Zusammenhang?«
Ich verstand überhaupt nichts. Es lag wohl daran, dass ich erst nach Kriegsende geboren worden war und mich nur im Rahmen meiner journalistischen Ausbildung so grob, wie irgend möglich mit der deutschen Nazizeit beschäftigt hatte.
Hannah schüttelte unwillig den Kopf, als wolle sie etwas dazu sagen, aber sie tat es nicht.
»Mein Großvater ist 1936 als Jakob Motzkin nach Palästina gekommen. Er war in Frankfurt und Köln an einer Bank beteiligt und Jude. Was macht ein Jude in einer deutschen Ausbildungskompanie dieser Zeit?«
Jetzt fiel bei mir der Groschen. »Haben Sie das Buch und das Foto noch?«
»Ja, in einem Banksafe hier in der Stadt.«
Diese Frau verstand es, nicht nur meine Begierde, sondern auch mein Interesse zu wecken. Was hatte sie, auf das ich ohne Vorwarnung meines Egos ansprang? Diese Art Seelenverwandtschaft zwischen uns vom ersten Wimpernschlag an war frappierend. Sie schien
mir zu vertrauen, und ich war mir ohne Wenn und Aber sicher, dass
sie nur mich ausgesucht hatte, ihr zu helfen.
»Wie kommen Sie darauf, dass ich Ihnen helfen könnte?«
Es war mein letzter Versuch, vielleicht doch noch ein Argument
für ein Nein zu finden. Aber ich wusste bereits, dass ich jetzt unter
keinen Umständen mehr ablehnen würde. »Fahren Sie mich ins Hotel?«
Die Hotelbar war mit plaudernden Menschen besetzt, die sich aus allen Berufen der darstellenden Branchen zusammenzusetzen schienen. Vertreter, die ihren Standdienst auf der benachbarten Messe ableisteten, Marketing-Strategen, die deren Chefs berieten, und Schauspieler, die sich am Set einer der vielen Filmproduktionen in der Stadt tummelten.
»Darf ich Sie zu einer Kleinigkeit einladen? Es ist spät geworden, und ich bekomme Hunger«, sagte Hannah mit einem Lächeln und benahm sich so, als sei sie schon seit Wochen Gast in diesem Haus.
Sie wählte einen Tisch, der etwas abseits war, doch einen Überblick über das Geschehen an der Bar zuließ.
Sie bestellte ein Steak, blutig, ohne alle Beilagen, und ich rang mich zu einer Frikadelle mit Kartoffelsalat durch. Es war nicht meine Tageszeit
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