Das Erbe Der Nibelungen
geritten, hatten aus ledernen Beuteln Brot gegessen und aus einem Bach klares Wasser getrunken. Es war ein Ausflug, wie Sigfinn und Brynja ihn als Kinder oft unternommen hatten, anfangs in Begleitung von Bediensteten, danach meistens allein. Die schmalen Pfade an den Klippen nahmen sie im schnellen Galopp, wobei Brynja Sigfinn als Reiterin überlegen gewesen wäre, auch wenn er nicht auf seine schmerzenden Rippen hätte achten müssen. Sie neckte ihn zu einem Rennen, das er nicht gewinnen konnte.
Bis ihr Pferd scheute.
Vielleicht war es das Gebrüll einer besonders wütenden Brandung, die an die Felsen klatschte, oder eine unerwartete Senke im Boden, die das Tier aus dem Gleichgewicht brachte. Mit einem verkürzten Seitenschritt versuchte es im Rhythmus zu bleiben, trat dabei neben dem Pfad auf einen glatt polierten Stein und rutschte endgültig in Richtung Klippe weg. Sein massiger Leib kippte nach vorn, die Hinterbeine traten hilflos in die Luft. Die Prinzessin wurde aus dem Sattel gehoben, ließ aber die Zügel nicht los. Das
rettete ihr zweifellos das Leben, denn der Ruck vom Hals des Pferdes war alles, was ihren Körper davor bewahrte, in die Tiefe zu stürzen, in der nur schroffer Fels und schäumendes Meer warteten. Über die Klippe rutschte sie, bis ihre rechte Hand eine Wurzel zu greifen bekam und die andere verbissen den Zügel hielt.
»Brynja!«, schrie Sigfinn und sprang von seinem Pferd, das sich noch halb im Lauf befand. Sein eigenes Leben war in diesem Moment nicht von Belang.
Das Pferd der Prinzessin verlor nun endgültig das Gleichgewicht, stolperte wiehernd über die Felskante und fiel in fast spöttischer Langsamkeit dem Tod entgegen. Brynja reagierte erneut geschickt und schnell, drehte die Hand aus dem Leder des Zügels und presste sich an die Klippe, während Geröll und Kies schmerzhaft auf sie herabregneten.
Sigfinn schlitterte herbei, blankes Entsetzen in den Augen. Im Gegensatz zu ihr konnte er sehen, wie der Körper des Pferdes hässlich aufschlug und schnell von der Brandung verschluckt wurde. Das Tier hatte nicht leiden müssen.
»Brynja!«, schrie Sigfinn noch einmal wie von Sinnen.
Brynja hing kaum eine Armlänge unter der Felskante, die linke Hand an der störrischen Wurzel, die rechte vorsichtig am Stein nach Halt tastend. »Sigfinn«, hustete sie, und ihre Augen tränten vom Staub.
Der Prinz hielt ihr die Hand hin, und Brynja ergriff sie mit großer Mühe. Doch ihr Gewicht zog Sigfinn, der sich auf dem unsicheren Boden kaum halten konnte, gefährlich zum Abgrund.
»Ich ziehe dich hoch!«, rief er, ganz im Widerspruch zu dem, was gerade geschah. Er hatte weder Halt noch Kraft, es wirklich zu tun.
Brynja öffnete den Griff und verlagerte ihr Gewicht wieder auf die Wurzel, die nun leise zu knacken anfing. »So geht es nicht!«
Für Sigfinn war der Anblick unerträglich: von oben konnte er, sicher und bequem, auf die angebetete Prinzessin herabschauen, die umgeben war vom tödlichen Abgrund, der an ihrem Leib zog und mit wässrigen Zähnen nach ihr schnappte.
»Ich hole mein Pferd!«, rief er nun. »Vielleicht können wir mit den Zügeln …«
»Ich … kann … nicht …«, stöhnte Brynja, und Sigfinn sah, dass ihre schmalen Hände den Griff verloren.
Er bemerkte zuerst nicht, dass in diesem Moment jenes Amulett aus seinem Hemd herausrutschte, das seine Mutter ihm nur Stunden zuvor gegeben hatte. Es baumelte nun fast spielerisch zwischen ihnen - an der schweren Kette, die um seinen Hals hing. Brynja sah das Schmuckstück an, als wäre es ein einzelner Lichtstrahl aus einem endlosen Himmel von Wolken. Sie griff danach, und Sigfinn spürte, was sie vorhatte: statt mit den Händen nach ihr zu greifen, zog er die Arme zurück, um sich bestmöglich abzustützen. Ein Blick zwischen ihnen reichte, und er bereitete sich auf den Ruck vor, als Brynja mit beiden Händen das Amulett packte.
Zwei, drei Minuten dauerte die Tortur. Fingerbreit um Fingerbreit schob sich der Prinz nach hinten, von der Klippe weg. Die Prinzessin, fast reglos an der Kette baumelnd, betete, dass sein Nacken so stark sein würde wie das Metall in ihren Händen. Zuerst ihre Hände, dann ihre Unterarme rutschten auf sicheren Boden. Als ihr Kopf staubig und blutig über die Felskante schaute, drückte sie sich mit den Ellbogen nach vorne, bis ihr Oberkörper schließlich
auf den Pfad sackte und sie die müden Beine nur noch hinterherziehen musste, um in Sicherheit zu sein.
Sie lagen dann so nebeneinander,
Weitere Kostenlose Bücher