Das Erbe Der Nibelungen
Haken und gab dem Tier die Freiheit, sein Opfer anzugreifen. Es dauerte einen Herzschlag, und Maginulf hatte sich seiner dämonischen Seite hingegeben und sprang - das Schwert wieder in der Hand - auf die Füße, um sich zu verteidigen. Trotzdem dauerte der Kampf, wenn man ihn
so bezeichnen wollte, keine zehn Sekunden, und Maginulfs Todesschrei wurde vom Schmatzen des Tieres übertönt, das sich an seinem Leib nährte.
Aus dem Schatten an einer Seite des Thronsaals, an dem es keinen Schatten geben durfte, schlich eine schlanke Gestalt auf Hurgan zu, der nicht einmal genug Interesse aufbrachte, um mit anzusehen, wie sein Statthalter gefressen wurde.
»Wir brauchen dann wohl einen neuen Statthalter in Constantia«, sagte Gadaric eilfertig. Ihn Berater zu nennen war eine Untertreibung. Er war Hurgans Einflüsterer.
»Wozu?«, bellte Hurgan. »Gibt es noch Widerstand zu brechen? Dörfer zu erobern?«
»Ihr seid der Herrscher«, gab Gadaric zu bedenken, »und Eure Macht braucht Präsenz.«
Hurgan war nicht über hundert Jahre alt geworden, um nicht zu merken, wenn die Stimme seines Schattens kaum wahrnehmbar zitterte. »Liegt etwas im Argen, Gadaric?«
»Nein«, beeilte sich der fleischgewordene Waldgeist zu versichern. Doch er holte das Wort zurück, denn jede Lüge hätte seinen Tod bedeutet. »Zumindest nichts, was von Belang wäre. Ein unbedeutender Zwischenfall im Norden, wo kaum noch Menschen sind.«
»Ich habe es gerochen«, murmelte Hurgan. »Nicht gewusst, nicht geahnt - gerochen. Die Zeit bäumt sich auf wie ein ungezähmter Gaul. Sie versucht ein letztes Mal, uns abzuwerfen.«
Während er sprach, ging der König wieder zum steinernen Balkon und sog die Nachtluft tief in seine alten Lungen.
»Niemand kann Euch gefährlich sein, Herr - nicht gegen die Horden, nicht gegen …«
Gadaric hielt inne, während sein Blick zum Tier ging, das nun gesättigt in seine Kiste hinter dem Thron kroch.
Hurgan hörte nicht auf ihn. Er schloss die Augen, konzentrierte sich und rief in Gedanken seinen ältesten Verbündeten. Schon nach wenigen Minuten kam er, angekündigt von einem Windstoß, wie er sonst nur Stürmen zuvorkommt. Hurgan stützte sich an der Mauer ab, um nicht zurück in den Saal zu stolpern. Der Himmel, bis dahin voller Sterne, wurde auf einmal pechschwarz, und ein Rauschen wie von tausend flatternden Segeln erfüllte die Luft.
Gestank. Schwefel und Ruß, Verwesung und Pest.
Hurgan öffnete die Augen.
»Fafnir.«
Brynja erschrak, als sie bei vollem Tageslicht erwachte und Sigfinn nicht an ihrer Seite lag. Obwohl sie auf sich selbst gut achtgeben konnte, sehnte sie sich schmerzhaft nach seiner Nähe. Der junge Prinz war das Letzte, was ihr von der Wirklichkeit, wie sie sie kannte, geblieben war.
Und da war noch mehr.
Brynja hatte es vom ersten Augenblick an gespürt, als sie in Island anlegte. Die Freundschaft zu Sigfinn hatte sich verändert. Er hatte sich verändert. Immer wieder ertappte sie sich dabei, wie sie seine breiter gewordenen Schultern ansah, und in der letzten Nacht hatten ihre Lippen nicht aus Unbedacht die weiche Haut an seinem Hals gestreift. Als sie zusammen in der heißen Quelle gebadet hatten, da hatte sie sich vor ihm ausgezogen. Nicht die Kälte Islands hatte ihr dabei Schauer über den Rücken gejagt, sondern die drängende Frage, ob Sigfinn sie wohl gerne so sah.
Sie schüttelte die närrischen Gedanken ab und sah sich um. Obwohl es schon lange Morgen war, schienen endlose
Wolken das Licht zu filtern und die Farben zu trüben. Und die Bäume trugen kaum Blätter, obwohl der Herbst erst begann. Was an den Zweigen hing, war braun und leblos. Zu den Kronen hin waren fast alle Eichen verwachsen, als habe eine Götterhand sie in Wut gewürgt. Kein gesunder Wald sah so aus, doch Brynja begann es zu akzeptieren.
Sie stand auf, nahm ihr Schwert und machte sich auf die Suche. Die Pferde waren immer noch angeleint und hätten sicherlich Lärm geschlagen, wenn etwas passiert wäre. Trotzdem war sie wachsam und schlich mit leisem Schritt durch das Gehölz.
Sie fand Sigfinn an einem kleinen Bach, der erstaunlich klares Wasser führte für diese schmutzige Welt. Er hatte den gröbsten Schmutz aus seiner Kleidung gerieben, die nun trocknend auf einem Stein lag. Er selbst stand bis zu den Oberschenkeln im Strom und tauchte seinen Kopf hinein, um die Haare zu waschen. Es faszinierte Brynja, wie sich sein schlanker Körper dabei rhythmisch spannte, wie sie die Muskeln unter seiner
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