Das Erbe Der Nibelungen
ging. »Wir reiten nach Süden, zwei Tage. Im Sonnental kenne ich Männer, die Hurgan genug hassen, um uns seinen Häschern nicht auszuliefern. Wenn wir dort …«
Er konnte nicht mehr zu Ende sprechen.
Die schwere Wurfaxt, die in diesem Moment aus der Dunkelheit geflogen kam, hätte einem normalen Mann den Rücken zwischen den Schulterblättern gespaltet. Bei Petar zerteilte sie mühelos den ganzen Oberkörper bis zur Schädeldecke hinauf. Die mächtige Klinge trieb einen breiten Keil in seinen kleinen Leib und warf ihn gegen das Pferd, welches erschrocken wieherte und zur Seite tänzelte. Der Zwerg war tot, bevor er auf den Stallboden fiel.
Dann hörten sie wieder die Stiefel.
Brynja schrie, und Sigfinn zog instinktiv an seinem Zügel, um das Pferd ruhig zu halten. Ihnen blieben vermutlich nur noch wenige Augenblicke. Er schlug dem Pferd seiner Begleiterin mit der flachen Hand hart auf die Flanke, und dieses grub die Hufe in den Boden und galoppierte sofort los. Brynja packte die Mähne, um nicht zu Boden geschleudert zu werden. Mit einem letzten Blick in die Finsternis versuchte Sigfinn, die Gestalten auszumachen, die sie angegriffen hatten, um der vagen Bedrohung endlich ein Gesicht geben zu können, doch es waren nur schwerfällige Schatten, die durch die Nacht auf sie zustapften. Knurrend, schleifend, zischelnd.
Sigfinn trat seinem Pferd in die Seite und ritt Brynja in die Nacht hinterher, so schnell er konnte.
Hurgan stand auf dem grauen, breiten Balkon, der wie ein Maul aussah, das auf das schmutzige Imperium von Burgund spuckte. In hundert Jahren hatte man auf seinen Befehl Häuser auf Häuser gebaut, übereinander, miteinander
verbunden, ineinander fassend. Eine unüberschaubare Menge an grob verputzten, hohlen Blöcken, wie Kinderspielzeug zu einem Haufen zusammengeschoben. Zur Mitte hin anwachsend, war die Stadt Worms über die Jahrzehnte zum Moloch geworden. Jetzt, in tiefster Nacht, flackerten überall Lichter in den Fenstern, doch sie kündeten nicht von wohliger Heimat, sondern verzweifeltem Flehen. Um die Fackeln und Kerzen herum sammelten sich Hunger, Krankheit und Tod.
Und über allem thronte die neue Burg.
Drachenfels.
Auf gigantischen Pfählen errichtet, die wie Hunderte Finger in die Straßen unter ihr griffen, war sie dem Himmel näher als dem Boden, und um sie zu verlassen, musste man ein Gewirr von hölzernen Treppen hinabsteigen. Sie war das Zentrum von Worms, sein schwarzes Herz, der giftige Stachel, der Egel, der ihm das Blut aussaugte. Ihre schlanken Türme waren in Leder gewickelt, das sich im Wind bewegte, leise knarzte und dem Beobachter das Gefühl gab, die Mauern seien nicht aus Stein, sondern aus Fleisch, unter denen sich träge Muskeln bewegten.
Hurgan war der alterslose König der Burg, der Stadt, des Landes, der Welt. Drachenfels war seine Festung auf einem gebrochenen Kontinent. Wo es keine feindlichen Reiche gab, gab es auch keine Gegner, und Hurgans Spione berichteten von kaum einer Handvoll Rebellen, die sich seiner Herrschaft widersetzten.
Was er von hier oben sehen konnte, mochte düster sein und verzweifelt - aber es gehörte ihm. Eher beiläufig öffnete Hurgan die Hose und urinierte vom Balkon auf sein Volk hinunter. Dann ging er zurück in den Thronsaal, um Recht zu sprechen. Sein Recht.
Die Halle, in der Hurgan regierte, war nicht eckig, sondern rund, wie die Säle von Walhalla. Drei Stufen führten zu seinem Thron, auf dass auch der größte Mann ihm nicht weiter als bis zum Knie reichte. Es gab sonst keine Stühle, keine Tische, und eiserne Spitzen an den Wänden sorgten dafür, dass niemand sich entspannt anlehnen konnte. Hurgan mochte seine Untertanen müde und ängstlich. Auch darum empfing er sie nur nachts.
Auf der rechten Lehne des Throns befand sich der Haken, an dem die Kette hing, die zum Tier führte. Als Hurgan sich setzte, konnte er sie vibrieren spüren.
Das Tier war hungrig.
Brynja und Sigfinn ritten so schnell sie konnten, und nur die Sterne gaben ihnen grobe Orientierung. Nach Süden, hatte Petar gesagt, bevor die Horden ihm das Lebenslicht genommen hatten. Von einem Sonnental hatte er geredet.
Irgendwann wurden die Pferde müde, und unter seinen Händen spürte Sigfinn ihren Schweiß. In einem dichten Wald, der in der Nacht sowieso kaum sicher zu durchqueren war, bedeutete er Brynja abzusitzen.
»Wir müssen rasten«, erklärte er, während er sein Pferd an einem Ast festband.
Brynja rutschte mehr von ihrem Pferd, als dass
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