Das Erbe Der Nibelungen
fuhr, wusste sie, was die Seherin gemeint hatte.
Die Überfahrt war beschwerlich gewesen, denn aufgrund seiner Verletzung hatte Calder Danain nicht viel helfen können. Und Island empfing sie auch nicht gerade mit offenen Armen: Es regnete, und zwischen den Tropfen wehte ein fauliger Geruch durch den Hafen. Tierkadaver lagen überall herum, und im flachen Wasser verrotteten die dümpelnden Boote. War Hurgans Reich auch tot, so war es doch wenigstens nicht leblos. Aber Sigfinn hatte Recht gehabt: es war ein guter Ort, um sich vor den Horden-Kriegern zu verbergen, um Pläne zu schmieden, um die richtige Gelegenheit abzuwarten.
Danain schlug vor, eines der kleinen Häuser am Hafen zu beziehen. Calder lachte. »Die ganze Insel steht uns offen, warum also bescheiden sein? Wenn schon sonst alles grau in grau ist, können wir wenigstens fürstlich wohnen.«
Er deutete auf Burg Isenstein, aus schwarzem Fels in den Berg gehauen. Danain runzelte die Stirn. Ihm wäre eine einfache, überschaubare Hütte lieber gewesen, aber er kannte Calder zu gut, um ihm zu widersprechen. Sein Freund bevorzugte das große Ziel, den großen Auftritt.
Zwei ganze Tage brauchten sie, um in vielen Runden ein Gespür für den Grundriss der Burg zu bekommen. Isenstein
beeindruckte mit prächtigen Sälen ebenso wie mit kleinen, verwinkelten Gängen, in denen man sich leicht verlieren konnte. Irgendwann entschied Calder, dass die Wege ohne Diener zu weit waren, um im Thronsaal zu essen, im Königsgemach zu schlafen und in der Küche zu kochen. Also schlugen sie ihr Lager in den kleinen Zimmern auf, die den Mägden zugedacht waren und in der Nähe der Kochstellen lagen. Danain fand immer wieder Tiere, die verlernt hatten, sich vor den Menschen zu hüten, und es mangelte ihnen weder an Essen noch an Feuerholz. Es dauerte nicht lange, da gewöhnte sich zumindest Danain an das karge Leben mit seiner feuchten Kälte. Welch Luxus, die Nächte schlafen zu können, ohne mit einem Ohr ständig auf die Stiefel der Horden achten zu müssen!
Es mochten ein, zwei Wochen ins Land gegangen sein, als Menschen vor den Toren von Isenstein standen. Sie hatten nachts das Licht in den Fenstern gesehen und kamen scheu, um die Neuankömmlinge zu begrüßen. Es waren die letzten Bewohner von Görand, der alten Hauptstadt Islands. Hundert waren übrig, vielleicht weniger, wo früher einmal Tausende gewesen waren. Sie hatten die Burg seit jeher mit einer Mischung aus Respekt und Furcht gemieden, und erst der Einzug der Rebellen hatte sie überzeugt, diese Einstellung zu überdenken.
An langen Abenden erzählte Danain den letzten Isländern von Hurgans Reich, von Fafnirs Schrecken und dem Terror der Horden. Im Gegenzug hörte er das, was von der Geschichte Islands übrig geblieben war. Eiflynn, ein alter Mann, dessen Vater das andere Jahrhundert noch kannte, erzählte mit gelöster Zunge bei wässrigem Bier: »Und so kam die Kunde aus Burgund, dass dem Drachen nicht beizukommen war. In seiner Not reiste König Gunther an,
ein eitler Monarch ohne Maß, der unsere Brunhilde freien wollte, um ihren Beistand gegen Fafnir zu erzwingen. Auf dem Feld aus Feuer und Eis nahm die Königin sein Leben in Sekunden und ließ das geschundene Burgund ohne Herrscher zurück. Sie reiste daher an den Rhein, um den Thron für sich zu fordern. Doch der, der sich heute Hurgan nennt, stellte sich ihr entgegen, und mit dunklen Mächten war er im Bunde. So durchstieß er die Brust der tapferen Brunhilde mit einem verzauberten Speer und warf ihren Leib dem Drachen zum Fraß vor, um dann selbst die Krone Burgunds zu tragen. Es war der letzte Tag, an dem im Reich die Sonne schien.«
Die Seherin wurde nicht müde, neue Gedanken in diese dunkle Welt zu setzen. An niemanden durfte sie Hand anlegen, keine Gurgel durfte sie zerquetschen, aber so wie die Nibelungen aus den Schatten regierten, war es auch ihr erlaubt, den Menschen ihr Schicksal zu prophezeien und es so zu lenken. Doch an keinem Tag war es ihr so schwergefallen wie heute. Ein, zwei Stunden hatte sie in den Schatten verborgen gestanden und Prinzessin Elea dabei zugesehen, wie sie sich von drei jungen Männern mit Wein übergießen ließ, um sie dann lustvoll fordernd an ihren Schoß zu ziehen. Sie war so grausam wie unersättlich.
Die Verderbtheit der Prinzessin war es nicht, die die Seherin so abstieß. Es war die Erinnerung an ein junges Mädchen in Burgund, vor fast hundert Jahren und doch in einer anderen Zeit. Ein Mädchen mit
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