Das Erbe Der Nibelungen
machte und so den Widerstand im Land doppelt brach. Kein Wunder, dass an ernsthafte Rebellion gegen den Tyrannen nicht zu denken war. Es schien Sigfinn aber auch nicht, als läge es jemandem am Herzen, in der Schlacht das Leben zu verlieren: die Menschen, die mühsam ihr Dasein fristeten, waren nach hundert Jahren Drachenherrschaft müde und entmutigt. Vielleicht war es nicht die Konsequenz von Hurgans grausamer Tyrannei, sondern einfach der Erkenntnis geschuldet, dass der Despot nicht sterben würde. Bei jedem anderen Herrscher konnte man, so schlimm er auch war, dem Lauf der Zeit vertrauen. Sein Tod würde kommen wie der jedes anderen. Aber im Falle Hurgans war zu fürchten, dass er noch auf dem Thron sitzen würde, wenn die Sonne erlosch. Kein Mann im Reich, egal wie alt, konnte sich mehr daran erinnern, wie es vorher gewesen war. »Vorher« war ein Gedanke, der jede Bedeutung verloren hatte. Und weil niemand sich mehr erinnerte, dass es einmal anders gewesen war, konnte sich auch niemand mehr vorstellen, dass es einmal wieder anders werden könne.
So arm und ausgebeutet die Provinzen, so lebendiger und kräftiger wurde das Leben, je näher Sigfinn an Worms kam. An den Straßen drängten sich die Händler oft dicht an dicht, in den Tavernen war nicht mal im Stall ein Platz für die Nacht zu finden, und am Wegesrand boten Bauern ihre Ware vom Wagen her feil. Das Angebot war nicht breit gefächert, aber auch nicht so karg wie in Fjällhaven. Wer genug Thaler besaß, konnte so manches kaufen: Fleisch, Obst und Wein. Und wenn die Horden-Krieger nicht in Sicht waren, auch Waffen, Frauen - und Geheimnisse.
Sigfinn fand Gefallen daran, nicht mehr nur der einsame
Reiter zu sein. Er war das Leben bei Hofe gewohnt, und Gesellschaft war ihm angenehm. Er unterhielt sich mit Marktfrauen, trank mit Knechten und half einem Tuchhändler, die geborstene Achse seines Karrens zu reparieren. Nur wenn Horden-Krieger heranmarschierten, duckte er sich in die Schatten, um nicht gesehen zu werden. Das fiel allerdings nicht weiter auf, denn so ziemlich alle anderen Menschen taten es ihm gleich. Man legte sich nicht mit der Horde an, sprach nicht, ohne aufgefordert worden zu sein, und hielt den Blick strikt auf den Boden geheftet. Halb verweste Schädel am Wegesrand zeugten von der Klugheit dieser Taktik.
Manchmal, meistens in der Dämmerung, sah man die Silhouette von Fafnir, wie er am Horizont seine Bahnen zog, und in der Nacht erleuchtete sein Flammenatem immer wieder die Finsternis wie ein störrischer Blitz, der sich an den Himmel klammerte. Es waren die Momente, in denen selbst eine Tagesreise entfernt die Menschen ihre Gespräche unterbrachen und still hofften, die Aufmerksamkeit der Bestie möge nicht ihnen gelten. Hurgans Schreckensherrschaft hatte sich in ihre Köpfe gebrannt, und sie unterwarfen sich.
Als Sigfinn noch glaubte, zwei Tagesreisen nach Worms vor sich zu haben, kam er an die Stadtgrenze, die ersten weitläufigen Ansiedlungen von Häusern, Tavernen und Ställen. Wie es aussah, hatte sich die Hauptstadt wie ein Geschwür im Land ausgebreitet, war über Hügel und durch Täler gekrochen und lag nun wie ein schwarzer Belag über einem Drittel dessen, was einmal das ganze Reich Burgund gewesen war. Worms war größer als Rom, Byzanz oder Alexandria.
Doch war es keine wirkliche Stadt mehr. Was im Zentrum
vor Ewigkeiten noch ordentlich gebaut worden war, mit Straßen und Rinnen für den Unrat, verlotterte in den neu entstandenen Außenbezirken zu eilig verlehmten Hütten ohne Fenster, ohne Plan, die um den Platz buhlten und miteinander im ewigen Kampf schienen. Wo hier Menschen hausten, wollten anderswo keine Schweine unterschlüpfen. Es stank erbärmlich, und die willkürlich getrampelten Pfade waren niemand Pflastersteine wert gewesen. Wollte man sich an den Siechen und Aussätzigen nicht anstecken, die überall am Wegesrand faulende Stümpfe zur Bettelei hielten, musste man auch noch die Luft anhalten. Sigfinn stieg von seinem Pferd und führte es am Zügel durch die Gassen einer Stadt, die einmal als eine der schönsten des Kontinents gegolten hatte. Die Horden-Krieger waren allgegenwärtig, aber auch seltsam unbeteiligt. Wie er vermutet hatte, erwarteten sie in ihrer eigenen Hochburg keinen Widerstand und gaben sich entsprechend gelassen.
Sigfinn wollte sich erst einmal umschauen, ein Gefühl für Größe und Proportionen bekommen. Irgendwann kaufte er bei einem Brothändler einen halben Laib für ein wenig mehr,
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