Das Erbe der Phaetonen
daß sie keine Vernunft besitzen und ebensowenig wie andere Tiere logischer Folgerung fähig sind. Was sie tun, tun sie mechanisch, ohne den Sinn zu ver- stehen. Aber die Art, wie sie beim Zusammentreffen mit uns gegen die Scheinwerfer vorgingen, laßt sich mit einer langen, vorbereitenden Dressur nicht erklären. Ich nahm damals an, sie kannten den Krieg. Das war ein Irrtum; die Reptile können keinen Krieg führen. Aber sie verstehen einen Schild zu be- nutzen, sich unter seinem Schutz einem Objekt zu nähern und es mit Steinen anzugreifen. Wie ist das zu erklären? Nur durch die Jagd. Durch die Jagd auf irgendein großes, gefährliches Tier. Die ‚Schildkröten' sind darauf dressiert worden, mit Schil- den und Steinen zu jagen, und sie haben bei der Begegnung mit uns in gewohnter Weise gehandelt. Den Unterschied zwischen dem üblichen Wild und unserem Fahrzeug haben sie nicht be- griffen. Wir dachten, sie zielten auf unsere Scheinwerfer. Irrtum. Sie bewarfen den ganzen Wagen mit Steinen. Daß dabei die Scheinwerfer getroffen wurden, ist reiner Zufall.“
„Also haben die Venusianer uns in jenem Augenblick nicht persönlich angegriffen?“ fragte Wtorow.
„Keinesfalls!“ entgegnete der Biologe. „Überlegen Sie ein- mal – sie haben doch unseren Wagen nicht verfolgt! Vergessen Sie nicht, daß ihre Vernunft nicht die der Erdenbewohner ist.“
Die Astronauten pflichteten Korzewski bei. Wenn man die Handlungsweise der Venusianer so deutete, wurde vieles ver- ständlich.
Die Arbeiten am Wehr wurden gegen Morgen eingestellt. Die Stämme, die am Fluß gelegen hatten, waren zum See ab- transportiert und an ihrer Stelle neue gestapelt worden. Wieder bestand nur jeder zweite Stapel aus geschälten Stämmen, wäh- rend die anderen Bäume Rinde und Äste enthielten. Korzewski maß diesem Umstand besondere Bedeutung bei.
„Daraus geht eindeutig hervor, daß nicht nur die Reptile, sondern auch die Venusianer selber nach einem ein für allemal gegebenen Schema verfahren“, erklärte er. „Kann man doch mit Gewißheit sagen, daß diese Arbeit bereits jahrhundertelang ge- leistet wird. Und trotzdem ist sie äußerst primitiv.“
Den Menschen war tatsächlich aufgefallen, daß man vieles ertragreicher und mit weniger Kraftaufwand hätte ausführen können. Dazu bedurfte es lediglich einiger elementarer Vor- stellungen von Arbeitsorganisation. Aber die Venusianer hat- ten davon keine Ahnung.
Nicht die geringste Spur einer Technik. Alles wurde mit den Händen, mit nackter Körperkraft getan. Das Hebelgesetz, das den Venusianern viel hätte helfen können, war völlig unbekannt. Selbst die einfachsten Steinbeile, von den Menschen der Erde schon vor undenklichen Zeiten benutzt, harrten bei ihnen noch der Erfindung.
„Bald wird sich hier alles ändern“, sagte Belopolski, „wir werden sie lehren, sinnvoll zu arbeiten. Die Venusianer sind im Vergleich mit uns Wilde. Aber sie sind unsere jüngeren Brüder. Es ist Pflicht des Erdenmenschen, ihnen alles zu geben, was sie brauchen, um sich das Leben und die Arbeit zu erleich- tern. Und das wird geschehen!“
„Ohne eine gemeinsame Sprache ...“, begann Korzewski. Aber der Expeditionsleiter fiel ihm ins Wort.
„Es wird geschehen!“ wiederholte er. „Und wir werden eine gemeinsame Sprache finden. Auf welche Weise sie miteinander reden, ist für uns noch ein Geheimnis. Aber dieses Geheimnis müssen und werden wir lüften.“
Toporkow, der dem Wortwechsel zuhörte, sah Belopolski hintergründig lächelnd an.
„Was würden Sie sagen“, fragte er, „wenn ich dieses Geheim- nis bereits enträtselt hätte?“
„Sie?“
Igor Dmitrijewitsch zuckte mit den Schultern.
„Man braucht kein Biologe zu sein, um in ein biologisches Ge- heimnis einzudringen. Es kann sein, daß die Technik uns Men- schen die Möglichkeit liefert, mit den Venusianern zu sprechen oder zumindest uns mit ihnen zu verständigen.“
„Was wissen Sie denn?“
„Erstens weiß ich nicht, sondern glaube zu wissen. Das ist nicht ein und dasselbe. Und zweitens werde ich Ihnen vorläufig nichts sagen. Das Mißtrauen, Konstantin Jewgenjewitsch, das in Ihrem Ausruf ,Sie?' lag, galt sicher nicht mir persönlich, son- dern der Technik, die ich vertrete. Es will Ihnen nicht gefallen, daß ein Ingenieur ein biologisches Geheimnis lüftet. Aber ich fühle mich für meine Berufskollegen gekränkt. Ich habe
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