Das Erbe der Runen 01 - Die Nebelsängerin
auftauchen, dann verschluckte ihn eine dichte Nebelwand, und sie war allein. Allein mit den unheimlichen Gespinsten, die mehr waren als nur konturlose Nebelformen, die sich in der Dunkelheit bewegten. Allein mit gestaltlosen Wesen, die sie nicht sehen, sondern nur erahnen konnte. Das Gefühl, sie in der Nähe zu wissen, machte ihr Angst …
Das Pferd wollte stehen bleiben, doch die Furcht, die ihr Herz umklammerte, drängte sie, es erneut anzutreiben.
Die Jagd begann.
Die Ausgeburten des Bösen griffen mit wild rudernden Klauen und gefletschten Zähnen nach ihr und versuchten, sie vom Pferd zu zerren.
»Lauf!« Sie presste sich dicht an den Hals des Tieres, das nun wieder in den Galopp fiel und sie mit wehender Mähne durch das Moor trug. So schnell flog es dahin, dass die Wesen ihr nicht folgen konnten. Sie waren zu langsam, stets einen Augenblick zu spät, und griffen ins Leere. Ajana hörte ihr zorniges Brüllen, sah die Augen hinter sich leuchten wie glühende Kohlen in schwärzester Nacht und schöpfte neuen Mut. Doch die Wesen gaben nicht auf. Die Jagd ging weiter. Eine erbarmungslose Jagd durch Nebel und nicht enden wollenden Morast, der unter den wirbelnden Pferdehufen aufspritzte. Während die Geschöpfe hinter ihr sie niemals ganz einholten, lauerten ihr am Weg neue auf, und die Hoffnung, die sie angesichts der gelungenen Flucht beflügelt hatte, schwand.
Die Veränderung kam langsam, wie ein heimtückisches Wesen, das über sie hinwegkroch und sich schließlich in ihr festsetzte, als sie erkannte, was es war: eine körperlose Stimme, die ihr zuflüsterte, was geschehen würde. »Du kannst das Rennen nicht gewinnen«, säuselte sie in hämischer Belustigung. »Niemand kann vor sich selbst fliehen. Kein Pferd, und sei es noch so schnell, vermag dich davonzutragen. Du kannst nicht vor dem fliehen, was dir kraft deines Blutes auferlegt wurde.«
»Verschwinde!« Ajana heulte vor Zorn auf und drängte ihr Pferd, noch schneller zu laufen. Doch die Stimme hörte nicht auf zu flüstern, während die Welt um sie herum alle Farben und Konturen verlor, als würde auch sie verschlungen von jenem finsteren Ungeheuer, das nach ihr griff …
Ajana riss die Augen auf. Sie war schweißgebadet, und unter der Decke klebten ihr die Kleider feucht an der Haut. In Inahwens Kammer war es ruhig und friedlich, doch der Traum haftete noch immer wie ein lebendiges Ding an ihren Gedanken und ließ sich nicht so schnell abschütteln.
Sie richtete sich auf und schaute zu der Elbin hinüber, die sich auf einer schlichten Holzpritsche auf der anderen Seite der Kammer zur Ruhe gelegt hatte – und erschrak. Inahwen schlief nicht, sondern blickte sie aus hellblauen Augen aufmerksam an. »Träume können Visionen von Zukünftigem sein«, sagte sie. »Sie können uns warnen, wovor wir uns hüten sollen. Aber sie können uns auch aufzeigen, was wir bei Tag nicht sehen wollen.«
Ajana war sprachlos und schwieg lange. Wie konnte Inahwen ahnen, was sie bewegte?
»Ich brauche frische Luft«, sagte sie schließlich, griff nach ihrem Umhang und schwang sich aus dem Bett.
»Vergiss nicht, dass der Tag früh beginnt«, sagte Inahwen.
Ajana nickte und schlüpfte in ihre Stiefel. »Ich bleibe nicht lange.«
Die Nacht war klar, kalt und still. Ajana schloss die Tür leise hinter sich, ging ein Stück und legte dann den Kopf in den Nacken. Die beiden Monde verbargen ihr silbernes und kupfernes Antlitz hinter den Bergen, doch wölbte sich ein funkelnder Teppich aus Abermillionen von Sternen über der Festung am Pass. Während sie die klare Luft tief einsog, blickte sie zum Firmament empor und hoffte, dass die Anspannung, die der Traum in ihr hinterlassen hatte, sich bald legte.
»Schön, nicht?«
Ajana zuckte erschrocken zusammen und fuhr herum. In den Schatten der Hauswand bewegte sich eine dunkle Gestalt auf sie zu. Unwillkürlich wich Ajana ein paar Schritte zurück.
»Ich konnte auch nicht schlafen.« Nichts Bedrohliches lag in der Stimme, die zweifellos einer Frau gehörte. Ajana atmete auf. Die Stimme schien ihr vertraut.
»Ajana.« Maylea lächelte und trat näher. »Verzeih. Ich wollte dich nicht erschrecken.«
»Maylea.« Jetzt erkannte Ajana die Wunandamazone, deren Gesicht ohne die heilende Salbe verändert wirkte. »Du hast mich nicht erschreckt«, schwindelte sie, um nicht überängstlich zu wirken. »Was machst du hier?« Plötzlich erinnerte sie sich daran, was Maylea ihr auf dem Karren der Heilerinnen erzählt
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