Das Erbe der Runen 01 - Die Nebelsängerin
von feindlichen Kriegern, doch ab morgen müssen wir auf der Hut sein.«
»Er wird kommen, wann immer ich ihn rufe«, erwiderte Keelin mit einem Blick auf die Beile an Toralfs Gürtel. »Das sind ungewöhnliche Waffen für einen Katauren«, bemerkte er.
»Nicht ungewöhnlicher als ein gewellter Beidhänder«, entgegnete Toralf und verzog das bärtige Gesicht zu einem Grinsen.
»Feanor, Darval!« Bayard wandte sich um und ging auf eine Gruppe von vier Kriegern zu, die sich dem Tor näherten. Das Wappen aus Schwertern und Krone wies zwei von ihnen unverwechselbar als Onur aus, die beiden anderen trugen schwarze Kaftane, die traditionelle Kleidung der Fath. Bayard wechselte ein paar Worte mit ihnen und gesellte sich dann wieder zu Toralf und Keelin. »Nun sind wir fast vollzählig«, stellte er fest.
»Fast?«
»Einer fehlt noch.« Die Art, wie Bayard die Worte aussprach, machte Keelin stutzig, doch er ging nicht weiter darauf ein und warf einen Blick auf das Tor, wo die ersten Krieger mit schweren, von stämmigen Pferden gezogenen Karren zum nahen Wald aufbrachen, um dort Bäume zum Bau der Katapulte zu fällen. Mit dem Sonnenlicht kehrte allmählich Leben in die Festung ein, und solange die Hörner der Wachtposten auf den Wehrgängen nicht von einem erneuten Angriff der Uzoma kündeten, ging ein jeder seinem Tagwerk nach, als wäre dies eine Stadt und kein Heerlager.
»Das ist nun schon der sechste Tag, an dem sich im Heerlager der Uzoma nichts rührt«, knurrte Bayard, als hätte er Keelins Gedanken gelesen. »Das bedeutet nichts Gutes. Nein, nichts Gutes. Thorns heilige Rösser, wenn wir doch nur wüssten, was die da drüben vorhaben.«
»Warum schickt Ihr keine Falken?«, erkundigte sich Keelin.
»Das haben wir.«
»Und?«
»Keiner kehrte zurück.«
»Oh.« Keelin schluckte. Die Furcht, Horus durch einen Pfeil der Uzoma zu verlieren, durchfuhr ihn, und er erschauerte. Er hatte von Falknern gehört, denen ein solches Unheil widerfahren war. Nur wenige waren in der Lage, den Verlust zu verkraften, manche verloren gar den Verstand. Ähnlich erging es den Falken, wenn der Falkner ums Leben kam. Die treuen Vögel verweigerten dann so lange jede Nahrung, bis sie den Hungertod starben. Die besondere Gabe der Raiden war Segen und Fluch zugleich, und obwohl die Falken Nymaths ein ähnlich hohes Alter wie die Menschen erreichen konnten, spielten sich gerade in Kriegszeiten schreckliche Szenen ab.
»Wir werden es ja bald mit eigenen Augen sehen«, hörte Keelin Bayard zu Toralf sagen. »Ich bin sicher, das lange Schweigen der Uzoma hat etwas mit den Lagaren zu tun. Niemand weiß, wo die Uzoma diese Biester verstecken und wie viele es sind. Das ist nicht gut.« Er schüttelte den Kopf und schaute einer weiteren Gruppe Krieger nach, die zum Holzschlagen in den Wald gingen. »Wenn ihr mich fragt, sollten sie sich etwas mehr beeilen. Ich habe da so ein Gefühl, als ob …«
»Die Katapulte werden rechtzeitig fertig sein. Seid unbesorgt, Heermeister.« Gathorion hatte sich zu der Gruppe gesellt und legte Bayard kameradschaftlich die Hand auf die Schulter. »Wie ich sehe, ist alles bereit«, sagte er mit einem Blick auf die Krieger.
»Nicht ganz.« Für einen winzigen Augenblick war zu spüren, wie wenig es Bayard behagte, dass der Elbenprinz seine argwöhnischen Worte mit angehört hatte. »Wir warten noch auf die …« Er räusperte sich. »Ajana ist noch nicht da.«
»Ajana?«, entfuhr es Keelin. »Warum kommt sie mit? Sie ist doch keine Kriegerin.«
»Sie geht mit, weil sie muss«, sagte Gathorion in einem Ton, der deutlich machte, dass weitere Fragen nicht erwünscht waren.
»Da kommt sie.« Alle Blicke wandten sich den beiden Frauen zu, die in diesem Augenblick die Straße herab kamen. Wie Keelin und die anderen Krieger war auch Ajana in einen dicken, warm gefütterten Umhang gehüllt und trug ein großes Bündel mit Decke und Proviant auf dem Rücken. Ihr Gesicht war blass, doch in ihren Zügen spiegelte sich Zuversicht. Neben ihr ging Inahwen mit ernster Miene.
Keelin starrte Ajana überrascht an, sagte aber nichts. Als sie ihn bemerkte, huschte ein zaghaftes Lächeln über ihr Gesicht, doch auch sie sprach kein Wort und stellte sich schweigend neben Gathorion und Inahwen.
Gathorion hob die Hand. »Niemand vermag zu sagen, wie lange die Reise dauern wird, die ihr zum Wohle Nymaths auf euch nehmt«, sagte er. »Mögen die Götter schützend die Hand über euch halten.« Er griff unter seinen Umhang, zog
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