Das Erbe der Runen 01 - Die Nebelsängerin
hatte, und fügte rasch hinzu: »Hast du deine Schwestern gefunden?«
»Ja.«
Die tonlose Art, in der Maylea ihr Antwort gab, machte Ajana stutzig. »Was ist geschehen?«
»Ich habe gelernt, dass es nicht wichtig ist, ob man jemanden findet, sondern wie man ihn vorfindet.« Eine tiefe Bitterkeit schwang in ihrer Stimme mit, und Ajana erschauerte.
»Wie meinst du das?« Noch während sie Maylea diese Frage stellte, wusste sie, dass sie die Antwort eigentlich nicht hören wollte.
»Sie sind tot.« Obwohl es dunkel war, glaubte Ajana zu sehen, wie Maylea die Fäuste ballte. »Tot!«
»Das … das tut mir Leid.« Ajana war sich nicht sicher, ob sie die richtigen Worte wählte, aber sie hatte das dringende Gefühl, irgendetwas sagen zu müssen.
»Sie waren Kriegerinnen«, erwiderte Maylea mit gespielter Kühle. »Kriegerinnen sterben nun mal.« Sie legte den Kopf in den Nacken und blickte zum Himmel empor. »Es wird nicht lange dauern, bis ich mit ihnen vereint bin«, prophezeite sie in dunkler Vorahnung.
»So etwas darfst du nicht sagen«, erwiderte Ajana erschrocken. »Niemand weiß, was ihn erwartet. Vielleicht wirst du ja eines Tages in deine Heimat zurückkehren, wenn … wenn das alles hier vorbei ist.«
»Ha.« Maylea lachte freudlos. »Das kann nur jemand wie du sagen. Jemand, der keine Ahnung hat von dem, was hier vorgeht. Jemand, der nicht weiß, wie mächtig die Uzoma sind.« Sie trat vor und deutete in die Klamm hinauf, wo die Felswände im Feuerschein rot erglühten. »Siehst du das?«, fragte sie. »Das sind die Feuer der Heerlager. Tausende von Uzomakriegern. Dutzende von Lagaren.« Sie schüttelte den Kopf. »Glaub mir, wenn das alles hier vorbei ist, wird es niemanden mehr geben, der heimkehren kann.« Es folgte ein langes Schweigen, dann fügte sie hinzu: »Außer dir vielleicht. Dich werden sie bald heimschicken, du bist schließlich keine Kriegerin.«
»Heim!« Nun war es Ajanas Stimme, die bitter klang. Der Verlauf des Gesprächs belastete sie sehr, und sie entschied sich, zurück in ihre Unterkunft zu gehen. »Ich wünsche dir alles Gute, Maylea«, sagte sie und wandte sich um. »Pass auf dich auf.«
»Das klingt wie ein Abschied«, erwiderte die junge Wunand. »Gehst du fort?«
»Ja.« Ajana machte ein paar Schritte auf die Tür zu, hielt dann aber noch einmal inne und deutete auf den Schein der Heerfeuer. »Morgen bei Sonnenaufgang gehe ich dorthin.« Sie spürte, dass es unnötig und vielleicht sogar unvernünftig war, Maylea einzubeziehen, doch es gelang ihr nicht, die Worte zurückzuhalten.
»Du? Allein? Warum? Was willst du dort?«, rief Maylea hinter ihr her. »Was soll das? Warum du? Das ist doch der reine Wahnsinn!« Sie lief Ajana hinterher und legte ihr die Hand auf die Schulter, als sie sie eingeholt hatte. »Warum?«, fragte sie noch einmal.
Ajana hielt inne, wandte sich um und sagte: »Weil es hier Menschen gibt, die die Hoffnung auf ein glückliches Ende noch nicht verloren haben.«
Das erste Licht des Tages überzog das Land südlich des Pandarasgebirges mit purpurfarbenem und silbernem Dunst, der wie eine Katze aus den Wäldern im Westen herankroch, um die feurige Sonnenscheibe im Osten zu jagen. Das Zwielicht war weich und seidig und barg einen trügerischen Hauch von Frühling in sich. Eine milde Brise vertrieb mit samtenen Fingern die Kälte der Nacht.
Die Dämmerung erreichte Keelin in der Schlafhalle der Dienstboten. Unter den verwunderten Blicken der Falkner hatte er zunächst in der Unterkunft und dann im Falkenhaus viel Zeit damit verbracht, seine Ausrüstung vorzubereiten, und sich dann noch eine Weile im Stroh des Falkenhauses ausgeruht, bis ihm ein Bote im Auftrag von Bayard einen warmen, pelzgefütterten Mantel und ein leichtes Kettenhemd gebracht hatte, das er unter den Oberkleidern tragen sollte. Das Gewand aus dünnen Ringen war nicht dazu angetan, vor einem gezielten Schwerthieb oder einem Pfeil zu schützen, vermochte aber bei weniger tödlichen Angriffen gute Dienste zu leisten. Er hatte es sofort angezogen und sich dann auf den Weg gemacht, um noch das eine oder andere zu erledigen.
Als alles bereit war, ging er zum Gewölbe der Dienstboten, um sich von Abbas zu verabschieden. Der junge Wunand lauschte seinen Worten noch recht verschlafen. Er war gerade erst aufgewacht und schien zunächst nicht recht glauben zu können, was er da hörte. Dass der einzige Freund, den er je gehabt hatte, die Festung schon nach so kurzer Zeit
Weitere Kostenlose Bücher