Das Erbe der Runen 01 - Die Nebelsängerin
wieder verließ, erschütterte ihn zutiefst. Doch Keelin ließ keinen Zweifel daran, dass es ihm ernst war. »Wenn der Winter kommt, bin ich zurück«, versprach er, weil er spürte, dass Abbas litt.
» Wenn du zurückkommst.« Abbas seufzte. »Du wärst nicht der erste Kundschafter eines Spähtrupps, der die Festung nie wieder sieht.«
»Mach dir darüber keine Gedanken«, erwiderte Keelin zuversichtlich und hob das helle Leinenhemd ein wenig an, damit Abbas sehen konnte, was er darunter trug. »Ich habe vorgesorgt.«
»Ein Kettenhemd!« Abbas betrachtete das Geflecht aus dünnen Ringen voller Bewunderung. »Wenn man dir so etwas anvertraut, muss es in der Tat eine sehr wichtige Aufgabe sein, zu der man dich berufen hat«, überlegte er und strich mit den Fingern gedankenverloren über das glänzende Metall. Eine Weile schwieg er, dann sprang er unvermittelt auf und blickte den Freund leidenschaftlich an. »Nimm mich mit«, bat er. »Lass mich dich begleiten. Ich könnte Wasser holen, Feuer machen, kochen …«
»Ach, Abbas!« Ein wehmütiges Lächeln huschte über Keelins Gesicht. »Du weißt, es gibt niemanden, den ich lieber an meiner Seite wüsste. Doch der Weg ist gefährlich. Wer sollte auf dich aufpassen? Die Krieger des Spähtrupps schleppen schon genug Lasten, und die schwerste davon ist sicher die, am Leben zu bleiben. Es ist keiner da, der ein Auge auf dich haben könnte. Auch bin nicht ich derjenige, der den Spähtrupp zusammenstellt. Der Heermeister Bayard selbst hat die Krieger ausgewählt.« Er seufzte und legte dem Freund tröstend die Hand auf die Schulter. »Es tut mir Leid«, sagte er bedauernd. »Aber du musst hier bleiben.«
»Ich kann sehr gut auf mich selbst aufpassen«, behauptete Abbas. »Bitte!« Die Verzweiflung in den Augen des Freundes brach Keelin fast das Herz. »Du weißt besser als jeder andere, warum ich hierher gekommen bin«, hörte er Abbas sagen und spürte, wie dieser sich bemühte, die Stimme gedämpft zu halten, um kein Aufsehen zu erregen. »Bitte! Leg ein gutes Wort für mich ein. Ich kann und will hier nicht bleiben. Dies hier«, er deutete in die Halle, »dies ist nicht das Leben, wofür ich Sanforan verlassen habe. Es ist schlimmer, viel schlimmer als Keldas Herdküche. Sie verachten mich, weil ich ein Wunand bin. Es gibt nicht viele Wunand in diesem Gewölbe, weißt du? Ich muss hier raus, verstehst du?«
»Ich verstehe dich«, sagte Keelin mitfühlend. »Und glaub mir, stünde es in meiner Macht, so würde ich alles daran setzen, dass du mitkommen kannst. Aber ich bin nur der Kundschafter, nicht der Anführer.« Plötzlich hatte er das Gefühl, das Gespräch rasch beenden zu müssen. Er kannte Abbas’ Wunsch, Ruhm und Ehre zu erringen, und wusste, er würde nicht locker lassen. Obwohl es ihn ärgerte, dass der Abschied von seinem besten Freund ein so unversöhnliches Ende fand, schulterte er sein Bündel und sagte knapp: »Es tut mir Leid. Leb wohl, mein Freund.« Dann wandte er sich um und verließ die Halle, ohne sich noch einmal umzublicken.
Die Gipfel und Grate des Pandaras, die sich zu beiden Seiten der Festung erhoben, waren in ein verwobenes Muster aus Licht und Schatten getaucht. Klar zeichneten sie sich vor dem blauen Himmel ab, als Keelin sich auf den Weg zum großen Tor machte, vor dem sich die Krieger des Spähtrupps versammelten. Der Schnee auf den Bergspitzen schien sich in den vergangenen Tagen noch ein Stück weiter talwärts geschoben zu haben, und der Anblick des frostigen Weiß erinnerte Keelin daran, dass der Schein des milden Wetters trog. In spätestens drei Silbermonden würden sich die Schneeflächen bis in die Täler erstrecken und erst wieder weichen, wenn die wärmenden Sonnenstrahlen des Frühlings sie von dort vertrieben.
»Schön, dich zu sehen, Keelin.« Bayard erwartete ihn bereits und streckte ihm zur Begrüßung die Hand entgegen. Der Heermeister trug seinen gewellten Beidhänder in der ledernen Scheide auf dem Rücken und führte Keelin zu einem weiteren Katauren, der sich zwei Handbeile mit schartigen Klingen in den Gürtel gesteckt hatte. »Heermeister Toralf«, sagte Bayard. »Das ist Keelin, unser Kundschafter.«
»Ein Kundschafter ohne Falke?«, erwiderte Toralf Augen zwinkernd und reichte Keelin die Hand.
»Horus ist auf der Jagd. Er wird rechtzeitig zurück sein«, versicherte Keelin höflich.
»Nun, zunächst muss er das nicht«, sagte Bayard leichthin. »Das Gebiet, das wir bis zum Abend durchwandern, ist frei
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