Das Erbe der Runen 01 - Die Nebelsängerin
deren Namen sie kannte. Alle anderen waren ihr fremd.
Faizah streifte sich den schmutzstarrenden schweren Kittel über und setzte sich die Lederhaube auf den Kopf, die nur einen schmalen Sehschlitz auf Augenhöhe besaß. Der Gestank nach Schweiß raubte ihr fast den Atem. Mit zusammengebissenen Zähnen kämpfte sie gegen die aufkommende Übelkeit an, schlüpfte in die viel zu großen, rissigen Handschuhe und ging zu den schweren Tontöpfen, die am Rand der Schlucht in endlosen Reihen aufgestellt waren. Die eingeschränkte Sicht und die Handschuhe machten es ihr nahezu unmöglich, einen der Töpfe am Henkel zu fassen, doch beim dritten Versuch gelang es ihr endlich. Mit klopfendem Herzen folgte sie Nuora zu dem schmalen Pfad, den zahllose Gefangene vor einigen Wintern in die senkrechte Felswand der Schlucht geschlagen hatten. In lang gezogenen Windungen näherte er sich dem flüssigen Feuer bis auf wenige Schritt und war gerade so breit, dass ein Uzoma dort hinuntergehen konnte, besaß jedoch weder eine Brüstung noch eine Sicherung, welche die Gefangenen vor einem Sturz in die Tiefe bewahrte.
Als Faizah in den feurigen Schlund hinabschaute, spürte sie wieder die eisige Faust, die ihr Herz beim Anblick der träge dahinströmenden Feuermassen umklammerte. Sie hob den Blick und schaute nach Süden, wo eine gewaltige gelbe Wolke am fernen Horizont den Ort kennzeichnete, an dem der Wehlfang seine glühende Fracht ins Meer spie. Der Anblick nahm sie gefangen und vertrieb für einen winzigen Augenblick die Furcht aus ihrem Herzen, doch der barsche Befehl eines Kriegers erinnerte sie sogleich daran, dass es Zeit war, eine der langen Eisenketten, die neben dem Pfad bereitlagen, am Henkel des tönernen Topfes zu befestigen und damit in die Schlucht hinabzusteigen.
Faizah wusste nicht, wie oft sie diesen Weg schon gegangen war. Den heißen, staubigen Weg, dessen Luft so schwefelhaltig war, dass es ihr den Atem verschlug. Langsam, unendlich langsam setzte sie einen Fuß vor den anderen und folgte Nuoras zierlicher Gestalt in den Höllenschlund.
Der Pfad war glatt und ausgetreten. Fünf Gruppen des Gefangenenlagers arbeiteten hier im stetigen Wechsel. Die schweren Stiefel hatten den Felsen im Lauf der Zeit blank poliert. Für den, der ausrutschte, gab es keine Rettung mehr. Der Sturz in die Tiefe bedeutete den Tod, und nicht selten riss ein Stürzender noch weitere Gefangene mit sich.
Faizah hatte schon viele auf diese Weise sterben sehen. Nur selten gelang es einer Gruppe, die Tontöpfe ohne menschliche Verluste gefüllt nach oben zu bringen. Beim ersten Mal hatte es einen jungen Uzoma erwischt, der unmittelbar vor ihr auf dem blanken Pfad nach unten gegangen war. Den Anblick des Halbwüchsigen, der sich noch im Fallen die Haube von Kopf gerissen und Faizah mit einer Mischung aus Unglauben und Flehen angestarrt hatte, würde sie niemals vergessen. Das zischende Geräusch, mit dem sein Körper in den Fluten verdampft war, verfolgte sie gar bis in ihre Träume. Viele hatte sie seither sterben sehen, doch es war immer wieder dieses Bild, das sie des Nachts schreiend erwachen ließ.
Inzwischen hatte sie die Hälfte des Wegs zurücklegt. Faizah schwitzte. Das dünne Untergewand klebte ihr nass und schwer auf der Haut, und die bloßen Füße rutschten in den schweren Stiefeln. Doch sie wusste aus Erfahrung, dass die Hitze noch schlimmer wurde, und versuchte nicht auf die Schweißtropfen zu achten, die ihr über den Körper rannen. Sie durfte nicht wagen, auch nur die Hand zu heben; jede noch so kleine Bewegung konnte das Ende bedeuten. Die Gefahr, das Gleichgewicht zu verlieren und auszurutschen, war zu groß. Um sich abzulenken, horchte sie auf das fremdartig anmutende Gurgeln und Zischen des fließenden Feuers in der Tiefe. Ein Geräusch, wie es nur der Wehlfang hervorbrachte und das Faizah wie kein anderes fürchtete.
Jetzt folgte der gefährlichste Teil des Abstiegs. Hier, wo die Hitze am unerträglichsten wurde, wo der Schweiß in Strömen rann und der Schwefel das Atmen zur Qual machte, starben die meisten. Hier genügte eine winzige Bewegung, um …
Plötzlich sah Faizah, wie Nuora die Hand hob, wohl um sich den Schweiß aus dem Nacken zu wischen.
Nein!
Faizah wollte sie warnen, doch in diesem Augenblick begann der schwere Tontopf in Nuoras Hand zu pendeln und schlug ihr gegen das Bein. Der Stoß reichte aus, dass ihr Fuß auf dem glatten Boden ausglitt. Unwillkürlich ließ die zierliche Uzoma den Henkel des Topfes
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