Das Erbe der Runen 01 - Die Nebelsängerin
los und fuhr mit der Hand suchend über die nackte Felswand, während der Topf samt Kette in dem Abgrund fiel. Doch die Wand bot ihr keinen Halt. Ein spitzer Schrei entwich ihrer Kehle, als sie zwei Schritte vorwärts stolperte. In ihrer Verzweiflung wollte sie den vor ihr gehenden Gefangenen am Gewand packen, doch er entzog sich ihr durch eine geschickte Drehung und einen raschen Schritt nach vorn.
Faizah hielt erschrocken den Atem an. Alles in ihr schrie danach, Nuora zu helfen. Doch obwohl sie sich dafür hasste, kämpfte sie gegen das Gefühl an und zwang sich, tatenlos zuzusehen, wie Nuora um ihr Leben kämpfte. Sie konnte dem Mädchen nicht beistehen. Jeder Versuch hätte auch für sie den Tod bedeutet. Das Gesetz des Wehlfang-Grabens war ebenso unerbittlich wie grausam; nur wer mit Bedacht handelte, kehrte aus seinem Schlund zurück.
Faizah schloss die Augen, um das Ende der zierlichen Uzoma nicht mit ansehen zu müssen, und betete für sie, dass es schnell und schmerzlos sein möge. Kaum einen Herzschlag später gellte ein markerschütternder Schrei durch die Schlucht und verging in dem widerlichen Zischen, das Faizah inzwischen schon fast vertraut war. Als sie die Augen öffnete, war Nuora fort.
Die Sonne brannte unbarmherzig vom Himmel herab, als Faizah den Topf mit dem flüssigem Feuer die letzten Schritte des Abgrunds hinaufschleppte. Der Weg hinunter war Kräfte zehrend, der Rückweg aber war eine einzige Qual. Die glühende Kette, an der sie den Topf in den Feuerstrom getaucht hatte, schleifte hinter ihr her. Nicht selten war sie gezwungen anzuhalten, weil ein völlig entkräfteter Gefangener nicht mehr weiter konnte und den Weg versperrte.
» Na sosa! – Beeilt euch!«, herrschte der Krieger sie an, als Faizah ihren Topf zu den anderen stellte, aber sie ließ sich Zeit, um die Gefäße zu zählen, bevor sie die Kleidung abstreifen und ins Lager zurückkehren würde.
Zwei Dutzend Tontöpfe reihten sich an diesem Vormittag dicht gedrängt an einer Seite der einzigen Straße, die von dieser Stätte des Todes in die Freiheit führte. Zwei Dutzend, zu denen sich im Laufe des Nachmittags noch einmal die gleiche Anzahl gesellen würde. Es waren doppelt so viele wie in den vergangenen Tagen. Wenn das so weiterging, würden die Gefangenen von nun an jeden Tag in die Schlucht hinabsteigen müssen und nicht, wie bisher, nur an jedem zweiten.
Jeden Tag! Der Anblick von Nuora, die verzweifelt um ihr Leben kämpfte, tauchte wieder in Faizahs Gedanken auf. Würde das am Ende auch ihr Schicksal sein?
Sie ballte die Fäuste. Sie wäre nicht die Udmo , die Enkelin des letzten freien Kaziken der Uzoma, der sich bis zu seiner grausamen Ermordung gegen die Unterwerfung seines Volkes aufgelehnt hatte, wenn sie sich so einfach in ihr Schicksal fügen würde. Sie wusste nicht, was der enorme Aufwand und die plötzliche Eile zu bedeuten hatten, doch unter dem großen Druck würden in den kommenden Tagen vermutlich noch mehr Gefangene sterben – und sie wollte nicht dazu gehören.
Faizah wusste, dass die Töpfe bei Einbruch der Dunkelheit von den Schergen des Whyono mit Pferdekarren an einen geheimen Ort geschafft wurden, ein Umstand, den sie sich auf irgendeine Weise zunutze machen musste! Sie überlegte fieberhaft. Und dann, ganz langsam, reifte in ihr ein verzweifelter Entschluss.
Wie zufällig geriet sie in die Nähe eines Uzomakriegers, als sie die Kleidung ablegte, und wie zufällig streifte sie sich das verschwitzte Untergewand in einer Weise vom Körper, dass er ihre wohlgeformten Brüste nicht übersehen konnte. Dann nahm sie den Wasserschlauch zur Hand und ließ sich das kostbare Nass in aufreizender Weise über die Haut laufen. Ein kurzer Blick zeigte ihr, dass der Plan aufging. Der Krieger starrte sie begierig an. Wohlig seufzend verrieb sie das Wasser mit den Händen, schaute zu ihm herüber und schenke ihm ein aufforderndes Lächeln. » Iyo aname? – Heute Abend?«, flüsterte sie ihm verheißungsvoll zu, während sie ihre Blöße mit dem schäbigen Gewand verhüllte.
»Iyo aname!« Der Krieger nickte. Dann versetzte er Faizah einen Hieb mit dem Heft seines Speeres, deutete in Richtung des Lagers und rief: »Ajat!«
Selbstzufrieden verschränkte Vhara die Arme vor der Brust und trat aus dem letzten der sechs Käfige heraus, in denen die Lagaren träge in das grelle Sonnenlicht blinzelten. Obgleich sie sich ausgelaugt und erschöpft fühlte, war der Hohepriesterin nichts von den
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