Das Erbe der Runen 01 - Die Nebelsängerin
Schilfgeflecht, die kaum hundert Schritte von dem tödlichen Abgrund entfernt dicht gedrängt beieinander standen, waren mit einer gelblichen Staubschicht bedeckt. Über allem lag der beißende Geruch von Exkrementen und Schwefel, der sich in der windstillen Luft hartnäckig zwischen den Hütten hielt. Ein doppelt mannshoher Zaun aus gespitzten Palisaden umschloss die kärglichen Behausungen von allen Seiten und ließ keinen Zweifel daran, dass sich die Bewohner keineswegs freiwillig an diesem lebensfeindlichen Ort aufhielten.
Das Dorf war ein Gefangenenlager. Der einzige Weg hinaus führte auf einem staubigen, von Hunderten Füßen ausgetretenen Pfad in Richtung des Wehlfang-Grabens.
Faizah stand zusammen mit einem Dutzend anderer Gefangener hinter dem verriegelten Tor und beobachtete, wie die erste Gruppe des Morgens die schweren Gewänder ablegte, die sie vor der Hitze des fließenden Feuers schützen sollten. Unter den ungeduldigen Rufen der Krieger machten sich die Gefangenen mit müden, schleppenden Schritten auf den Rückweg zum Lager. Die dunklen Gesichter glänzten von Schweiß. Die Männer und Frauen waren zu Tode erschöpft, und Faizah stellte erleichtert fest, dass diesmal alle unversehrt zurückkehrten.
Die junge Uzoma war noch nicht lange hier. Zusammen mit zehn anderen Kurvasa war sie wegen eines misslungenen Fluchtversuchs von dem Lager am Arnad hierher gebracht worden.
Dies war ein Lager für alle Geächteten, die zu fliehen versucht oder es gewagt hatten, sich gegen die allgewaltige Herrschaft des Whyono aufzulehnen. Hier endete alles. Es war ein Todeslager, aus dem man nur entkam, wenn der Tod einen aus den Fängern der Wachen befreite.
Und das dauerte meist nicht lang.
Nur wenige, die hierher kamen – das hatte Faizah gleich nach ihrer Ankunft erfahren –, sahen das volle Antlitz der Monde mehr als einmal, und so war es nicht verwunderlich, dass die Gefangenen schnell zu abweisenden Einzelgängern wurden. Verschlossen und stumm ließen sie sich nicht mit anderen ein, kümmerten sich nicht um die Not und das Elend der Mitgefangenen und sahen weg, wenn diese von den Wachen gedemütigt, misshandelt oder missbraucht wurden.
Gefühle wie Freundschaft oder gar Zuneigung, das hatte Faizah sehr schnell gelernt, waren hier nicht zu erwarten, denn enge Bindungen führten früher oder später unweigerlich zu Trennung, Trauer und Leid.
Hier gab es keine Freude und keine Gerechtigkeit, hier gab es nur Staub, Hitze und Schmerzen. Schmerzen, die von dem flüssigen Feuer herrührten, aber auch solche, die die Wächter vor allem den weiblichen Kurvasa durch diabolische Grausamkeiten zufügten.
Faizah und die beiden anderen Frauen, die mit ihr in das Lager gekommen waren, hatten es am eigenen Leib erfahren. Als Kurvasa war Faizah es von Kindheit an gewohnt, dass die Krieger des Whyono sich ihres Körpers bedienten, als wäre er ihr Eigentum. Doch was man ihr hier angetan hatte, war schlimmer als alles, was sie im Lager der Fronarbeiter an den Ufern des Arnad hatte erdulden müssen. Nach einer nicht enden wollenden Marter und den entwürdigenden Handlungen der Schergen des Whyono hatte man sie blutend und übel zugerichtet ins Lager zurückgezerrt und sich selbst überlassen.
Zwei Tage und Nächte hatte sie in einem Dämmerzustand zwischen Leben und Tod verbracht und verdankte ihr Leben nur der Hilfe einer Mitgefangenen, die sich ihrer erbarmt und ihr Wasser eingeflößt hatte.
Inzwischen waren die Schmerzen, die ihr die Krieger zugefügt hatten, vergangen, und die Frau, die sie gerettet hatte, tot. Auch die Dankbarkeit, die sie der Unbekannten gegenüber zunächst verspürt hatte, war verklungen, denn das Leben am Rand des Wehlfangs war so unerträglich, dass sie sich insgeheim wünschte, die Frau hätte sie sterben lassen.
In diesem Augenblick durchschritt der letzte Gefangene das Tor. » Ajat! Ajat! – Schneller! Schneller!« Mit langen Stockschlägen gegen die Kniekehlen trieben die Krieger Faizah und die anderen Gefangenen zu der Stelle, an der die schützenden Gewänder der ersten Gruppe lagen.
Faizah schlüpfte in die Stiefel aus dickem Leder und begann sich anzukleiden. Die junge Uzoma vermied es, zu den anderen hinüberzusehen. Sie wusste, was sie in den Gesichtern lesen würde. Der kräftige Ologh, dem man nachsagte, er habe einen Krieger des Whyono im Streit getötet, und die zierliche Nuora, die viel weinte und an diesem Morgen erst das zweite Mal in den Schlund stieg, waren die Einzigen,
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