Das Erbe der Runen 01 - Die Nebelsängerin
des Wasserfalls. So hob er nur die Hand und bedeutete ihnen, ihm zu folgen.
Die Finger in den Fels gekrallt, beobachtete Ajana, wie sich das Licht der Fackel auf dem schmalen Pfad abwärts bewegte. Der Wind, der in dieser Höhe unablässig an den Felsen entlangstrich, trug die eisige Gischt des Wasserfalls zu ihr herüber, sodass ihr die Haare bald feucht und kalt an den Wangen klebten.
»Geh weiter!«, ertönte Mayleas Stimme dicht an ihrem Ohr. Die Wunandamazone fasste sie an der Schulter und deutete voraus, doch Ajana rührte sich nicht von der Stelle. Der Gedanke, dass sich wenige Schritte voraus ein tödlicher Abgrund auftat, lähmte sie.
»Ajana!« Mayleas Stimme übertönte das Brausen des Wasserfalls. Ungeduldig zupfte sie an ihrem Ärmel, um sie zum Weitergehen zu bewegen, und rief: »Wir müssen weiter!«
Ajana war wie erstarrt. Sie spürte den Sog der Tiefe, das Erbeben des uralten Gesteins unter ihren Füßen und ein leises, verlockendes Wispern, das aus der Tiefe zu kommen schien und ihre Seele zu sich rief. Sie hatte Angst.
Selbst wenn sie es gewollt hätte, sie hätte nicht weiter gekonnt. Ihre Füße schienen mit dem Fels verwachsen, und die behandschuhten Hände klammerten sich Halt suchend an winzige Felsvorsprünge, die eine trügerische Sicherheit verhießen.
»Beim Barte des Asnar!«, wetterte Toralf lautstark hinter ihr. Wie Maylea kam auch er nicht an Ajana vorbei. »Nun geh schon«, rief er ungeduldig. »Wir wollen hier doch nicht die Nacht verbringen.«
Aber alles Bitten, Drängen und Fluchen blieben vergebens. Die Furcht hatte Ajana fest im Griff und hinderte sie hartnäckig daran, den Weg fortzusetzen. Weiter unten hatte Bayard innegehalten. Er hatte wohl bemerkt, dass ihm nicht alle folgten, denn das Licht der Fackel verharrte ruhig an einer Stelle.
»Ajana!« In Mayleas sanftmütiger Stimme schwang ein ärgerlicher Ton mit. »Geh endlich!«
»Ich kann nicht!« Ajana schrie die Worte in die Nacht hinaus. Sie zitterte am ganzen Körper. In ihren Augen standen Tränen, und eine düstere Vorahnung flüsterte ihr zu, dass sie in den Tod ging, wenn sie auch nur eine Hand von den Felsen löste.
»Natürlich kannst du. Der Weg ist schmal, aber nicht so schmal, dass wir abstürzen werden. Du musst es nur versuchen, dann gelingt es dir auch.«
In diesem Augenblick legte sich eine Hand auf Ajanas verkrampfte Finger und löste diese sanft vom Gestein.
Keelin!
»Hab keine Angst«, hörte sie den Falkner dicht neben sich sagen. Seine Hand hielt die ihre fest umschlossen. Für wenige Herzschläge zögerte Ajana noch, doch dann war das Vertrauen größer als die Furcht. Vorsichtig machte sie einen ersten Schritt und folgte Keelin den schmalen Pfad entlang langsam auf das einsame Licht der Fackel zu, das ihnen den Weg wies.
Dicht hintereinander tasteten sie sich den bröckelnden Pfad hinab. Bayard ging vorweg, gefolgt von Feanor, Darval, Salih, Cirdan und Keelin, der Ajana an der Hand hielt. Maylea und Toralf bildeten den Schluss. Der Wind nahm zu. Heulend pfiff er durch die Felsspalten und zerrte so heftig an den Gewändern der Gefährten, als wollte er sie zur Umkehr bewegen. Obwohl sie den Wasserfall schon ein Stück hinter sich gelassen hatten, trugen die Böen die feine Gischt zu ihnen herüber, und die Nässe machte den Boden schlüpfrig.
Die Nacht schritt voran, die Wolken zogen ab, und die Monde erhoben sich über den Bergen. Der Mondschein tauchte die zerklüfteten Klippen in ein atemberaubendes Licht, und dort, wo das Wasser den Fels benässte, erstrahlte er wie pures Silber.
Ajana hatte keinen Blick für diese Schönheit. Noch immer hielt sie Keelins Hand fest umklammert, während sie sich die Felswand entlangtastete. Sekunden wurden zu Minuten, Minuten zu Stunden. Die Zeit verschmolz mit dem Berg zu einer kleinen Ewigkeit aus Dunkelheit und kühlem Gestein. Ajana war schon erschöpft gewesen, als sie die Klamm erreicht hatten, doch diesen Zustand hatte sie längst überschritten – sie fühlte nichts mehr.
Irgendwann blieb Keelin stehen und wandte sich zu ihr um. »Du hast es geschafft«, sagte er aufmunternd und gab langsam ihre Hand frei.
»Gut gemacht.« Maylea klopfte ihr anerkennend auf die Schulter und ging an ihr vorbei, um ein paar Worte mit Bayard zu wechseln.
»Siehst du, das ging doch.« Toralf grinste, doch auch er wirkte erschöpft, und selbst Ajana spürte, wie erleichtert er war, dass der schwierigste Teil des Abstiegs endlich hinter ihnen lag.
Vor ihnen
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