Das Erbe der Runen 01 - Die Nebelsängerin
der windstillen Luft des frühen Morgens zog der Qualm der erlöschenden Feuer nur zögernd ab und verbarg den größten Teil des Heeres vor ihren Augen.
»Sie formieren sich«, erwiderte Gathorion, ohne den Blick von dem Aufgebot der Angreifer abzuwenden, das wie eine dunkle Masse schwerfällig hin und her wogte. Obwohl er gute Augen hatte, war die Entfernung zu groß, um Einzelheiten zu erkennen.
»Werden sie noch heute angreifen?«, fragte Inahwen besorgt.
»Nicht bei Tageslicht.« Gathorion schüttelte den Kopf »Uzoma sehen des Nachts besser als Menschen. Diesen Vorteil werden sie für ihren Angriff gewiss nutzen.«
»Es ist nicht nur das Heer, es ist auch die Nachricht des Falken, die dir Sorge bereitet«, sagte Inahwen leise und legte die Hand auf seine Schulter.
»Sechs Lagaren.« Gathorion seufzte. »Sechs, die gestern das Lager erreichten. Und keiner kann sagen, wie viele sich noch in den Schluchten des Pandaras vor unserem Auge verbergen.« Er wandte das Gesicht seiner Schwester zu, und was sie in seinen Augen erblickte, erschreckte sie zutiefst. Zum ersten Mal sah sie ihren Bruder zweifeln.
»Wir sind zu langsam, Inahwen«, sagte er voll düsterer Vorahnung und deutete in die Schlucht hinab. »Der Uzoma könnten wir uns wohl erwehren, doch bei einem Angriff der Lagaren besteht kaum Hoffnung.«
»Unsere Krieger arbeiten bis zur völligen Erschöpfung«, wandte Inahwen ein, und in ihren Augen glühte ein leidenschaftliches Feuer. »Die ersten beiden Katapulte sind schon bald in Position. Nur noch wenige Tage, dann sind wir bereit.«
»Wenige Tage.« Gathorion schaute nach Osten, wo sich die Sonne eben über die Bergspitzen erhob. »Die Götter mögen geben, dass uns noch so viel Zeit bleibt.«
»Endlich!« Ein finsteres Lächeln umspielte Vharas Mundwinkel, als sie den Mondstein in ihrem Stab betrachtete. Seit dem frühen Morgen ging ein schwaches Leuchten von ihm aus. Es war bei Tageslicht kaum zu erkennen, reichte jedoch aus, um der Hohepriesterin zu bestätigen, was sie schon seit Tagen vermutete: Die Erbin der Runenmagie nahte.
Prüfend drehte sie den Stab in alle Himmelsrichtungen, beobachtete, wie der Schein sich veränderte, und nickte zufrieden. Alles lief nach Plan. Das Licht des Mondsteins zeigte ihr nicht nur, dass die Nebelsängerin sich nun nördlich des Pandarasgebirges und somit jenseits der Einflusses der Elbenmagie aufhielt, die Nymath noch vor den Ränken ihres Meisters schützte; er wies ihr auch die Richtung, in der sie nach ihr suchen musste.
Elben! Bei dem Gedanken an die mächtigen Verbündeten der Menschen verfinsterte sich die Miene der Hohepriesterin. Als sie die Wüste durchquert hatte, war ihr noch nichts von diesem geheimnisvollen Volk bekannt. Erst die Uzoma, die mit den Elben schmerzliche Erinnerungen verbanden, hatte ihr von den Syeeden Naban erzählt, den Menschen mit den silbernen Haaren. Viele Uzomalegenden rankten sich um dieses Volk, Legenden, in denen davon berichtet wurde, dass die Menschen sich mit dem Meeresgott verbündet hätten. Um ihnen im Kampf gegen die Uzoma beizustehen, beschwor dieser Gott einen mächtigen Sturm herauf, der die Elben an die Küste Nymaths spülte, auf dass sie die Uzoma aus ihrer Heimat vertrieben.
Es hatte sie viele Winter gekostet, die Wahrheit hinter den Legenden zu ergründen. Das Geheimnis um die Magie des Nebels hatte sie jedoch erst aufgedeckt, als Uzomakrieger einen Elben in ihre Gewalt gebracht hatten. Von ihm hatte sie erfahren, wo sie nach den Erben jener mächtigen Elbenpriesterin suchen musste, die einst die Nebel heraufbeschworen hatte. Schließlich hatte sie ihm auch das Wissen über den geteilten Stein entlockt, der die Verbindung zu dem magischen Amulett der Nebelsängerin über die Grenzen der Welten hinweg aufrechterhielt – jenem Stein, der nun ihren Stab schmückte. Vhara konnte die Aura der Elbenmagie spüren, die ihn umgab, anwenden konnte sie diese jedoch nicht.
Nachdem die Uzoma den Stein gestohlen und ihr übereignet hatten, hatte sie ihn eingehend studiert. In zahllosen Nächten hatte sie versucht, seine Magie zu ergründen, doch diese war zu fremdartig und wollte sich ihr nicht offenbaren. Dennoch hatte der Mondstein ihr gute Dienste geleistet. Durch ihn hatte sie die Verbindung zu der anderen Hälfte verfolgen und all jene aufspüren können, die das Erbe der Elbin in sich trugen.
Und jetzt wies er ihr den Weg zur letzten Nachfahrin von Gaelithils Blut.
Lächelnd betrachtete
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