Das Erbe der Runen 01 - Die Nebelsängerin
einen stummen Schrei aus. »Der Ajabani!«, stieß sie hervor. »Er will uns töten!«
»Töten und sterben«, seufzte der Semouria in ihren Gedanken. »Alle Sterblichen fürchten den Tod und trachten dennoch anderen nach dem Leben. Sie glauben, der Tod sei das Ende. Ein ewiges Nichts ohne Freude. Woher sollten sie das wissen? Wer sagt ihnen das? Ist der Tod wirklich eine Strafe, entsetzlich und fürchtenswert? Oder ist er eine Erlösung? Fragen, so viele Fragen, auf die sie keine Antwort kennen.« Er glitt dicht an den Ajabani heran. »Dieses Haus beherbergt eine schwarze Seele«, säuselte er voller Abscheu. »ER ist nicht willkommen.«
Er wandte sich um und glitt weiter durch den Felsspalt. Ajana warf noch einen letzten unbehaglichen Blick auf den Ajabani, der mitten in der Bewegung erstarrt schien, dann schwebte sie dem Wächter hinterher. Sie war überzeugt, dass er sie aus der Höhle hinausführte, doch dann, ganz plötzlich, tat sich die Felswand vor ihren Augen auf. Ein natürlicher Tunnel erschien, wo zuvor nichts als harter Fels gewesen war, und der Wächter glitt lautlos hinein.
Je tiefer sie in den Berg vordrangen, desto unheimlicher wurde es. Überall wallten dichte Nebel über den Boden und machten es Ajana fast unmöglich zu erkennen, was sich darunter verbarg. Doch langsam erhellte sich das Dunkel und bald war die schimmernde Aura um den Körper des Wächters nicht mehr die einzige Lichtquelle. Ajana entdeckte an den Wänden seltsam moosartige Geflechte, die einen ähnlich grünlichen Glanz verströmten. Zunächst traten sie nur vereinzelt auf, doch je weiter sie in die Stollen vordrangen, desto freier wucherten sie und verbanden sich schließlich zu einem leuchtenden Netz, das sich entlang der Tunnelwände ausbreitete und dem Bodennebel einen grünen Schimmer verlieh.
Hin und wieder glaubte Ajana huschende Nebelgespinste zu sehen, die sich wie sie durch den Tunnel bewegten. Doch der Eindruck war flüchtig, und die Gestalten verschwanden so schnell, wie sie entstanden. Verwirrt richtete Ajana ihr Augenmerk wieder auf den leuchtenden Körper des Wächters, der lautlos und geschmeidig vor ihr durch den Bodennebel schwebte.
Angst fühlte sie keine, weder vor den Nebelwesen noch davor, was sie am Ende des Tunnels erwartete. Inzwischen hatte sie sich sogar daran gewöhnt, keinen Boden mehr unter den Füßen zu spüren.
Immer häufiger teilte sich der Tunnel, und der Wächter wählte den Weg, ohne zu zögern. Ajana folgte ihm. Irgendwo in den Tiefen ihres Bewusstseins blitzte der Gedanke auf, dass sie ohne fremde Hilfe niemals wieder aus diesem Labyrinth herausfinden würde. Der Gedanke war jedoch so fern und scheinbar unwichtig, dass sie ihn nicht weiter verfolgte.
Schließlich wurde der Tunnel so niedrig, dass Ajana mit dem Kopf fast die Decke berührte. Das schimmernde Moosgeflecht war auch hier allgegenwärtig, und die geheimnisvollen Wesen begleiteten sie nach wie vor.
Aber die durchscheinenden, flüchtigen Gestalten, die sich aus dem Bodennebel formten, um gleich darauf wieder zu zerfließen, waren nicht der einzige Streich, den die sonderbare Umgebung Ajanas Sinnen spielte. Denn im Gegensatz zu der vollkommenen Stille der anderen Tunnel waren hier Geräusche zu vernehmen – Stimmen, rauschendes Wasser und eine fremdartige, geisterhafte Musik, die keinen Ursprung zu haben schien. Unerwartete Düfte strömten auf sie ein, verdrängten den feucht modrigen Hauch brackigen Wassers, der sie bislang auf dem Weg begleitet hatte, und weckten die Erinnerung an eine blühende Sommerwiese. Und als könnten die geisterhaften Musikanten, die diesen Ort bewohnten, das Bild mit ihr teilen, verstummte die Musik für einen kurzen Augenblick, und ein trauriges, sehnsuchtsvolles Seufzen strich durch das uralte Gestein. Kurz darauf berührte ein leichter Windzug Ajanas Gesicht gleich einem flüchtigen Kuss, trug Düfte und Musik mit sich fort und ließ nur die flüsternden Stimmen zurück, deren Worte sie nicht verstehen konnte.
Ajana erschauerte. Dies war zweifellos ein Ort der Geister, die Ruhestätte eines uralten Volkes, dessen Name in Nymath längst vergessen war.
Vielleicht klagen sie, weil sich keiner mehr ihrer erinnert, überlegte Ajana, und ein Teil von ihr verspürte plötzlich tiefes Mitgefühl mit den verlorenen Seelen, die hier ein trauriges Dasein fristeten. Doch bevor sie weiter über das Schicksal der Unbekannten nachdenken konnte, veränderte sich die Umgebung erneut, und der Gedanke
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