Das Erbe der Runen 01 - Die Nebelsängerin
nützt sie mir nichts.« Sie machte eine drängende Handbewegung. »Worauf wartet ihr? Los, versucht es noch einmal.«
Aber auch der zweite Wasserschwall brachte nicht den gewünschten Erfolg.
Vhara war außer sich. Der Gedanke, dem Ziel so nahe zu sein und vielleicht doch noch zu scheitern, war ihr unerträglich. »Verschwindet«, herrschte sie die beiden Uzoma an und fuchtelte aufgebracht mit den Armen. »Los, los, geht mir aus den Augen, bevor ich mich vergesse! Wenn sie stirbt, werdet ihr dafür büßen. Alle! Darauf könnt ihr euch verlassen.«
Die Krieger der Tempelgarde zuckten unter den Worten der Priesterin zusammen, verneigten sich mit gesenktem Blick und verließen eilig den Raum.
Es dauerte eine Weile, bis Vhara sich wieder so weit beherrschte, dass sie den nächsten Schritt wagte. Es war lange her, seit sie die Tore eines fremden Bewusstseins geöffnet hatte, sehr lange. In den Geist eines Fremden einzudringen barg viele Gefahren, nicht nur für den Fremden, sondern auch für sie selbst. Türen, die besser verschlossen blieben, konnten geöffnet werden, Erinnerungen, die nicht zerstört werden durften, mochten vernichtet werden. Die Fähigkeit, den Geist eines anderen zu berühren, war sowohl Fluch als auch Segen. Doch Segen war es, den Vhara ersehnte. Ihr unbändiges Verlangen, das Amulett zu besitzen, und die Furcht, dass die Fremde sterben könnte, ohne noch einmal das Bewusstsein erlangt zu haben, waren so übermächtig, dass sie bereit war, das Wagnis auf sich zu nehmen.
Als sie die nötige innere Ruhe gefunden hatte, trat Vhara hinter die Gefangene, legte ihr die Hände flach auf die Schläfen und atmete tief durch. Den Blick starr geradeaus gerichtet, schloss sie die Augen und versank langsam in jene tiefe Meditation, durch die sie das Wissen zu erlangen hoffte, nach dem es sie verlangte.
Unter den Hufen des schwarzen Hengstes flog die Nacht dahin, bis das erschöpfte Tier sich weigerte, weiter zu galoppieren.
Mit harten Zügelschlägen und Fersentritten versuchte Abbas das Pferd anzutreiben, doch es war am Ende seiner Kräfte, und schließlich musste er einsehen, dass es nun nur mehr langsam voranging.
Der junge Wunand fluchte leise vor sich hin.
Seit er den Arnad überquert hatte, hatte sich die Gegend stetig verändert. Die weite Steppe war fast unmerklich in eine sanft gewellte Landschaft übergegangen, deren flache Anhöhen und sandige Mulden dem erschöpften Tier das Vorankommen zusätzlich erschwerten. Obwohl der Boden immer noch unfruchtbar und karg wirkte, bot das seichte Hügelland dem Auge zumindest ein wenig Abwechslung.
Als das Pferd nur noch mit müden Schritten vorantrottete, entdeckte Abbas in der Ferne die Umrisse von Gebäuden. Die niedrigen, kuppelförmigen Hütten erweckten den Eindruck, als hätte hier das Kind eines Giganten im feuchten Sand gespielt und ihn hundertfach in halbrunde Formen gepresst.
Eine Stadt.
Abbas spürte, wie sich sein Herzschlag beschleunigte. Er war sich sicher, dass die Krieger Maylea dorthin verschleppt hatten, und die Hoffnung, sie nun bald zu finden, gab ihm neue Kraft.
In einiger Entfernung von der Stadt ließ er das Pferd in einer Senke anhalten und saß ab. Ein beißender Schmerz durchfuhr ihn, als er die ersten Schritte machte, doch er achtete nicht darauf und erklomm den Rand der Senke mit zusammengebissenen Zähnen. Oben angekommen, legte er sich flach auf den Boden, spähte zur Stadt hinüber und fand seinen ersten Eindruck bestätigt. Die kleinen kuppelförmigen Hütten glichen sich wie ein Ei dem anderen. Sie waren ringförmig um einen ausgedehnten, flachen Hügel errichtet worden, auf dem gleich mehrere erstaunlich große Gebäude thronten, die völlig anders aussahen als die übrigen Hütten.
Wenn ich Maylea finde, dann irgendwo dort oben! Abbas war sich seiner Sache ganz sicher. Doch wie sollte er sich der Stadt unbemerkt nähern? Die karge Landschaft bot ihm keinerlei Deckung; weit und breit gab es nichts, hinter dem er sich hätte verstecken können. Die Mulden zwischen den Anhöhen vermochten ihn zwar für kurze Zeit vor Blicken zu schützen, doch er konnte sich ja nicht ewig darin aufhalten. Er musste in die Stadt gelangen.
Aber wie?
Abbas seufzte und fuhr sich mit den Händen über das Gesicht.
Die Ungeheuerlichkeit der Aufgabe, die er sich selbst gestellt hatte, entmutigte ihn. Nachdenklich sah er zum Nachthimmel auf, als könnte er dort eine Lösung finden. Dünne Wolken waren von Westen herangezogen
Weitere Kostenlose Bücher