Das Erbe der Runen 01 - Die Nebelsängerin
er dem Heermeister auf unziemliche Weise ins Wort gefallen war.
Doch obwohl Artis dem Knaben einen zornigen Blick zuwarf, verzichtete Gathorion darauf, ihn zu maßregeln. »Ich höre«, sagte er ruhig.
»Die Katapulte zu Rechten und zur Linken sind bereit«, berichtete der Bursche mit ernster Miene. »Es sind noch ausreichend Pfeile vorhanden, doch die Befehlshaber geben zu bedenken, dass die neue Angriffswelle nicht viel länger andauern darf als die vorherige.«
»Ich danke dir.« Gathorion entging nicht, dass der Knabe vor Aufregung und Schwäche zitterte. Wie alle in der Festung war auch er schon die halbe Nacht auf den Beinen und verrichtete unermüdlich seine Aufgabe. »Richte den Befehlshabern aus, dass die Lagaren diesmal gezielt die Katapulte angreifen werden. Wir müssen die Flugechsen schon im Anflug erwischen, nur so gibt es Hoffnung.«
»Ja, Herr.« Der Meldegänger deutete wiederum eine Verbeugung an, eilte zur Treppe und entschwand den Blicken des Elbenprinzen, der ihm nachdenklich hinterher schaute. Es ist nicht recht, dass halbe Kinder in einen solchen Kampf ziehen, dachte er betrübt und fragte sich, wo die Götter sein mochten, die dergleichen zuließen. Hatten sie sich abgewendet? Oder sahen sie dem hundertfachen Sterben womöglich seelenruhig zu, wie Spieler, die ihre Figuren in einer großen finalen Schlacht gegeneinander setzten?
Gathorion vermochte es nicht zu sagen. Bekümmert richtete er den Blick wieder nach Norden und erkannte, was die dröhnenden Hörner der Wachtposten gleich darauf verkündeten.
Die Lagaren kamen. Die zweite Angriffswelle begann.
Auf dem freien Platz vor dem Tempel ertönte lauter Hufschlag.
Die Tempelgarde!
Hastig legte Vhara zwei Eisenstäbe in die Glut des Kohlebeckens und schritt zur Tür, um die Krieger zu empfangen. Sie kamen im rechten Augenblick. Alles war bereit.
Die Uzomakrieger waren schon abgesessen, als sie den Hofplatz erreichte und zu ihnen trat, um die reglose Gestalt zu betrachten, die gefesselt und besinnungslos über dem Rücken eines Pferdes hing. Es war eine junge Frau mit schwarzen Haaren, die sie in der Art der Wunand geflochten trug. Auch die Kleidung entsprach der Gewandung der stolzen Kriegerinnen. Eine gelungene Täuschung. Vhara lachte abfällig. Wie einfältig diese Ungläubigen doch waren und wie leicht zu durchschauen. Wenn der Feind glaubte, sie auf so lächerliche Weise in die Irre fuhren zu können, hatte er sich gründlich getäuscht.
»Ihr habt mir gute Dienste geleistet«, wandte sie sich an die wartenden Krieger. »Mein Dank ist euch gewiss.« Das gönnerhafte Lächeln wich einem entschlossenen Gesichtsausdruck, und sie zeigte auf zwei der Krieger. »Ihr zwei kommt mit mir«, befahl sie und deutete mit einem Kopfnicken auf die Gefangene. »Nehmt ihr den Umhang ab und schafft sie rein. «
Wenig später lag die Wunand im Schein der glühenden Kohlebecken auf der dicken, vernarbten Tischplatte des Terbelan , hinter dessen Mauern die Krieger der Tempelgarde schon so manchem Unwilligen die Zunge gelockert hatten. Hand- und Fußgelenke der Gefangenen wurden von dicken Eisenbändern umschlossen, an denen schwere, stramm gespannte Ketten hingen, die durch eigens dafür angefertigte Öffnungen unter der Holzplatte verschwanden. Ein breiter Ledergurt hielt sie um die Taille.
»Weckt sie auf.« Ungeduldig schritt Vhara neben dem Tisch auf und ab. Sie hatte die Gefangene gründlich durchsucht, aber kein Amulett gefunden. Dass die junge Frau es nicht bei sich trug, beunruhigte die Hohepriesterin zutiefst. Eine Nebelsängerin auf dem Weg zum Arnad ohne Amulett?
Was mochte das bedeuten?
Diese Frage konnte ihr nur die Gefangene beantworten, doch diese hatte sich noch immer nicht geregt. Ihr Gesicht war stark angeschwollen, die pacunussbraune Haut an vielen Stellen bläulich verfärbt. Nach den Schilderungen der Uzoma hatte sie sich während des Ritts aufs Heftigste gewehrt und war nur mit Gewalt zu bändigen gewesen. Dabei schienen sie nicht gerade zimperlich mit ihr umgegangen zu sein und Vhara hatte große Sorge, dass die Gefangene für längere Zeit nicht wieder zu sich käme.
Mit zweifelnder Miene beobachtete sie, wie die beiden Krieger kaltes Wasser über das Gesicht der jungen Frau gossen, und stellte verärgert fest, dass es keine Wirkung zeigte. »Bei Serkses feurigen Haaren, ich wollte sie lebend «, fuhr sie die Krieger an. »Lebend! Ging das nicht in eure haarlosen Schädel? In diesem halbtoten Zustand
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