Das Erbe der Runen 01 - Die Nebelsängerin
zärtlich berührte sie die erste Rune mit dem Finger und schloss die Augen. Etwas regte sich in ihrem Innern, erwachte wie ein Licht in der Dunkelheit. Aus dem Licht wurde ein heller Schein, der sich in ihrem Innern ausbreitete und in dem sich wie von selbst die vertraute Melodie entfaltete. Ganz zart schwebte sie heran, hüllte sie ein wie ein Schleier und trug sie mit sich fort. Die Musik war voller Magie, voll wundersamer Kräfte, die sie mit Staunen und Bewunderung erfüllten, die ihr nicht fremd, sondern vertraut und willkommen waren und die sie begrüßte wie einen schmerzlich vermissten Freund.
Wozu noch?
Wieder überfielen sie Zweifel. Das Lied verstummte, das Licht erlosch. Die Magie war fort.
Das Ziel! Verliere das Ziel nicht aus den Augen!
Das Ziel. Ajana öffnete die Augen, sah zum Fluss und versuchte, ihre Gedanken neu zu ordnen. Sie durfte nicht zweifeln! Wieder schloss sie die Augen, atmete tief ein und spürte, wie sich die warme Ruhe erneut in ihr ausbreitete.
Dagaz.
Wie von selbst fand ihr Finger den Weg zur ersten Rune. Das Licht entflammte fast augenblicklich, schwoll an und wurde rasch zu einem hellen Schein. Da war sie wieder, die Melodie aus ihren Träumen. Aus den Tönen wurden Wörter einer uralten Sprache, die Ajana nie gehört und nie gesprochen hatte und die sie dennoch so mühelos verstand, als wäre sie ihre eigene. Sie spürte, wie ihre Lippen zitterten, fühlte, wie sie darauf brannten, selbst das erste Wort hervorzubringen.
Aber wozu noch?
Mit einem Schlag war es dunkel. Dunkel und still. Ajana hatte das Gefühl, in einen bodenlosen Abgrund zu stürzen. Ohne Licht, ohne Musik und ohne Magie, leer und ausgelaugt. Sie sah gerade noch, wie das Zeichen der ersten Rune im Mondstein verblasste. Dann schlossen sich ihre Finger schützend um das Amulett, und sie sank auf die Knie.
»Was ist los?« Keelin und Bayard waren augenblicklich bei ihr, halfen ihr auf und führten sie zurück zur Uferböschung. Horus kam wie aus dem Nichts herangeflogen und landete flügelschlagend neben ihr auf dem Boden.
»Was ist los?«, fragte Keelin noch einmal. Der Blick des jungen Falkners war von tiefer Sorge gezeichnet.
»Ich kann es nicht.« Ajana schüttelte verzagt den Kopf. »Ich kann es nicht.«
»Thorns heilige Rösser, was ist das für ein Geschwätz? Natürlich könnt Ihr es!« Bayards ärgerlicher Tonfall gab seiner Furcht Ausdruck, dass alles vergebens gewesen sein könnte. »Das Blut Gaelithils fließt in Euren Adern. Ihr tragt das Erbe in Euch. Ihr …«
»Ich habe Angst.« Ajana flüsterte nun.
»Die Angst ist ein Teil des Lebens. Ihr müsst ihr offen ins Gesicht blicken und dürft sie niemals verschleiern«, erwiderte Bayard und fügte ermunternd hinzu: »Es ist ein gutes Zeichen, wenn Ihr sie erkennt.«
»Aber ich bin nicht stark genug.« Ajana sah den Heermeister an. »Ich habe die Magie in mir gespürt, ihr Erwachen. Ich habe das Lied gehört. Doch als ich Magie und Musik zusammenbringen wollte, habe ich sie verloren.«
»Du darfst nicht an dir zweifeln!«, sagte Keelin und ergriff ihre Hand. »Gaelithil glaubt an dich. Gathorion glaubt an dich. Feanor, Toralf und die anderen gaben ihr Leben, weil sie an dich glaubten. Auch ich glaube an dich.« Er sah ihr tief in die Augen.
Ajana erwiderte den Blick, sagte aber nichts. Es war ihr deutlich anzusehen, wie sehr sie mit sich rang. Dann, ganz plötzlich, löste sie sich von Keelins Hand, erhob sich und machte ein paar zögerliche Schritte auf das Wasser zu.
Wozu noch?
Ihr Verstand rief ihr zu, es sich noch einmal zu überlegen, doch diesmal streifte sie alle Zweifel ab und trat entschlossen zum Wasser. Die Steine knirschten unter ihren Füßen. Sie war wie eine Jägerin, innerlich kühl und gefasst, den Blick fest auf das Ziel gerichtet.
Dagaz …
Mit geschlossenen Augen berührte sie noch einmal die erste Rune, sah das Licht und spürte, wie das Lied erneut in den Tiefen ihres Bewusstseins erklang. Die Melodie wurde lauter, die Magie fordernder, und Ajana fühlte die uralte Macht, die darin verborgen lag. Eine Macht, die ihr gehörte und der sie sich nun bedienen konnte.
Verliere das Ziel nicht aus den Augen!
Das Ziel! Getragen von mystischen Klängen, fühlte Ajana sich, als wäre ihr Selbst eine sich öffnende Blume von berauschender Schönheit. Sie wuchs über sich selbst hinaus, öffnete die Lippen und sang:
»Laston i i thross i ngelaidh. Olthon o mellon ne mith …«
(»Ich höre das Flüstern der
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