Das Erbe der Runen 01 - Die Nebelsängerin
übersehen, wie sehr ihn die unerwartete Nachricht aufwühlte. Zum ersten Mal hatte Keelin das Gefühl, dass der forsche und stets unerschütterliche Kataure zögerte. Doch der Eindruck verflog so schnell, wie er gekommen war. Nur wenige Augenblicke später hatte Bayard sich wieder im Griff und wirkte so gefasst und zuversichtlich wie zu Beginn der Reise.
»Ruf den Falken zurück«, wies er Keelin an. »Wir werden nicht zulassen, dass diese verfluchten Uzoma die Festung stürmen.« Er nahm die Zügel fest in die Hand und ließ sein Pferd antraben. »Worauf wartet ihr noch!«, rief er Ajana und Keelin zu, während er das Tier mit gezielten Fersenhieben anspornte. »Wenn wir uns beeilen, erreichen wir den Arnad noch vor Sonnenaufgang.« Der schwarze Hengst wieherte schrill, sprang vorwärts und setzte sich mit donnernden Hufen vor die Pferde der anderen, die sogleich in den gestreckten Galopp einfielen.
Wie Schattenreiter preschten Bayard, Ajana und Keelin im Mondlicht dahin. Die Körper der Pferde waren schweißnass, die Nüstern weit gebläht.
Ajana spürte die zunehmende Erschöpfung der Tiere und schaute ängstlich zu Bayard hinüber. Das Gesicht des Heermeisters war von tiefer Sorge gezeichnet. Die dunklen Augen erforschten das Land, das sich vor ihnen auftat, als könnte er den Arnad herbeizwingen, während er sein Pferd mit grimmiger Entschlossenheit weiter antrieb.
Ajana warf Keelin einen schnellen Blick zu. Die Züge des jungen Falkners spiegelten die gleiche Sorge wider, die auch den Heermeister quälte, und Ajana ahnte, was die beiden bewegte: Die Festung stand in Flammen, und sie fürchteten, dass sie zu spät kämen.
So galoppierten sie durch flache Talmulden, die sich zwischen sanften Hügeln auftaten, und über niedrige Anhöhen hinweg und jagten ohne Rast durch die schweigende nächtliche Steppe.
Endlich kam der Arnad in Sicht, ein breites, im Mondschein silbern funkelndes Band. Der Anblick ließ Ajanas Herz höher schlagen, doch bei aller Freude, das Ziel endlich erreicht zu haben, weckte er auch Zweifel in ihrem Innern.
Es war nicht die Furcht vor dem Versagen, nicht die bange Frage, ob sie das, was von ihr erwartet wurde, auch zu vollbringen vermochte. Es war etwas anderes, das sie schon seit Tagen wie ein düsterer Schatten begleitete. Etwas, das Abbas mit seinen Worten in ihr geweckt hatte, das den Sinn der Reise, der vielen Opfer und ihre Aufgabe so sehr in Frage stellte und das Ajana die ganze Zeit über bei sich unterdrückt hatte.
Es war eine Frage, die sie niemandem zu stellen wagte. Doch welchen Sinn konnte die Magie der Nebel noch haben, welchen Schutz noch bieten, wenn das Heer der Uzoma schon bis zum Pandarasgebirge vorgedrungen war?
Gerade jetzt, so kurz vor dem Ziel, ließen sich die Zweifel nicht mehr verdrängen. Hartnäckig setzten sie sich in ihr fest, und der Dreischlag der Hufe verwandelte sich wie von selbst in eine monotone Melodie, in deren Rhythmus eine einzige, bohrende Frage hinter ihrer Stirn hämmerte: »Wozu noch?«
Der Umstand, dass die Lagaren einen langen Weg zurücklegen mussten, um eine neue tödliche Ladung des feurigen Wassers aufzunehmen, und die Tatsache, dass das Heer der Uzoma offensichtlich den Befehl hatte, so lange mit dem Angriff zu warten, bis das Feuer seine zerstörerische Wirkung voll entfaltet hatte, gewährte den Verteidigern eine unerwartete Verschnaufpause. Die Verwundeten konnten versorgt und die Toten fort geschafft werden; die Schäden am Mauerwerk wurden wenigstens notdürftig behoben. Wer konnte, half beim Löschen der Brände oder dabei, die gewaltigen Katapulte nach Norden auszurichten.
»Eine ungewöhnlich zögerliche Angriffstaktik.« Artis, der Onur-Heermeister, der neben Gathorion auf der äußeren Festungsmauer stand, schüttelte den Kopf.
»Eine vorsichtige«, berichtigte Gathorion, ohne den Blick von dem feindlichen Heer abzuwenden. »Die Lagaren sind eine so zerstörerische Waffe, dass sich die Uzoma selbst davor fürchten. Sie werden kaum das Wagnis eingehen, selbst Opfer der Flammen zu werden, und erst angreifen, wenn die Lagaren ihnen den Weg bereitet haben.«
»Dann sind sie nicht nur zögerlich, sondern auch feige«, bemerkte Artis mit finsterer Miene. »Sie …«
»Ich bringe Nachricht von den Befehlshabern der Katapulte.« Ein Meldegänger erklomm die hölzerne Treppe der Brustwehr, trat vor Gathorion und deutete eine Verbeugung an. Er wirkte erschöpft. Vermutlich hatte er gar nicht mitbekommen, dass
Weitere Kostenlose Bücher