Das Erbe der Runen 01 - Die Nebelsängerin
Heermeister hatte sie die Brustwehr des zweiten Verteidigungsrings erklommen, um sich selbst ein Bild von der Schlacht zu machen. Sie hatte zu wissen geglaubt, was sie erwartete, doch der Anblick übertraf selbst ihre schlimmsten Befürchtungen.
Vom Kampfgeschehen auf dem vorderen Wall drang ohrenbetäubendes Geschrei herüber. Am Fuß der zerstörten Außenmauer wehrten die Krieger der Vereinigten Stämme einen Angriff nach dem anderen ab; die Körper der unzähligen Toten aber, die den Platz hinter der Mauer wie ein dichter Teppich bedeckten, zeugten davon, welch hohen Preis sie für ihren Mut bezahlten.
Die gelichteten Reihen kämpften verzweifelt, um einen Durchbruch der Uzoma zu verhindern. Doch es starben zu viele, und die Reserven des Uzomaheeres schienen schier unerschöpflich. Das war keine Schlacht; es war ein grausamer Abnutzungskrieg, den die Krieger der Vereinigten Stämme nicht zu gewinnen hoffen konnten. Und über all dem schwebten die Lagaren wie düstere Schatten des Todes und säten mit ihrem giftigen Atem Leid und Verderben unter den Verteidigern. Inahwen hob den Kopf und blickte zum Himmel empor, wo die massigen Leiber der Echsen über der Festung kreisten und nach neuen Angriffszielen Ausschau hielten.
Seit auch das letzte Katapult zerstört war, konnten die Lagarenreiter ihre Ziele sorgfältig auswählen, sodass die eigenen Krieger nicht gefährdet wurden. Sie hielten sich dabei an den hinteren Teil der Festung, wo schon Unzählige, die mit dem Löschen der Brände beschäftigt waren, dem Giftodem der Lagaren zum Opfer gefallen waren.
Angesichts des grauenhaften Tötens und Sterbens fragte sich Inahwen, welch blindes Schicksal die Bewohner Nymaths zu einem solch grausamen Ende verurteilte. Was mochten es für hartherzige Götter sein, die zuließen, dass all dies geschah?
Gaelithil hatte ihr Leben gegeben, um die Bewohner Nymaths zu schützen, auf dass sie in Frieden leben konnten. Doch damit schien es nun vorbei zu sein. Wenn die Festung fiel, war Nymath verloren.
Zum ersten Mal verspürte Inahwen Hoffnungslosigkeit.
Wie sollten sie jemals standhalten, wenn der Feind über eine solch mächtige und zerstörerische Waffe verfügte? Wie hatten sie nur glauben können, dass …
Etwas Seltsames geschah.
Zunächst glaubte Inahwen an eine Täuschung, doch dann sah sie, dass die Reiter auf den Rücken der Lagaren große Schwierigkeiten hatten, die Tiere zu lenken. Die Echsen schnappten mit ihren großen Mäulern nach ihnen und flogen wild durcheinander. Ehe die Elbin so recht begriff, was da geschah, schoss die erste Echse nach Nordosten davon. Auch die anderen hielt nun nichts länger. Ohne auf die Befehle ihrer Reiter zu achten, trudelten sie ab und flogen in unterschiedlichen Richtungen auseinander.
»Was geschieht da?« Ein junger Meldegänger mit rußverschmiertem Gesicht kam herbeigelaufen und starrte den Flugechsen nach, die längst nur noch als schwarze Umrisse vor den tief hängenden Wolken zu erkennen waren. »Was hat das zu bedeuten?«
»Es sieht fast so aus, als würden sich die Lagaren wieder ihrer Freiheit bewusst«, sagte Inahwen leise. Sie spürte ein heftiges Glücksgefühl in sich aufsteigen, wagte jedoch nicht, es zuzulassen. Die Furcht, dass sie sich irrte und die Lagaren wieder zurückkämen, war zu groß. Mit bangen Blicken suchte sie den Himmel nach den geflügelten Echsen ab. Aber die Lagaren waren fort.
Dafür erschallte in den Tiefen der Grinlortals das dumpfe Dröhnen mächtiger Hörner. Das Signal brach sich an den Felswänden und übertönte selbst den Kampfeslärm. Der durchdringende Klang ließ einen Ruck durch das Heer der Uzoma gehen, und Inahwen sah, wie sich die Schlachtordnung in den hinteren Reihen auflöste.
Ein Rückzug?
Inahwens Hände umklammerten die hölzerne Brustwehr. War das eine List? Eine neue Angriffstaktik, um die Verteidiger zu verwirren?
Oder was es wirklich möglich, dass …
Das Dröhnen der Hörner nahm kein Ende.
Immer mehr Uzoma wandten sich um, kehrten der Festung den Rücken zu und eilten zum Heerlager. Der Kampf auf der Außenmauer kam zum Erliegen, das Klirren der Waffen verstummte, und selbst die Krieger, die eben noch durch den Spalt in der Außenmauer drängten, zogen sich zurück.
Die Verteidiger sahen ihnen verwirrt und fassungslos hinterher, unfähig zu begreifen, wie ihnen geschah.
Für mehrere Herzschläge senkte sich eine geradezu unwirkliche Ruhe über das Tal, die nur vom fortwährenden Ruf der Hörner
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