Das Erbe der Runen 01 - Die Nebelsängerin
wie jede andere auch, und doch war sie anders – fremd und feindlich.
Erleichtert stellte Abbas fest, dass die Uzoma keine Hunde hielten. Kläffende Hunde, die die Schlafenden weckten, waren seine größte Sorge gewesen. Doch im Gegensatz zu den Straßen Sanforans, wo sie des Nachts in großen Rudeln herumstreunten, war hier nicht ein einziger Hund zu sehen. Alles blieb ruhig.
Nur selten entdeckte er Gestalten, die sich im schwachen Mondlicht zwischen den Häusern bewegten, doch sie waren zu weit entfernt, als dass sie ihn bemerkt hätten.
Wie ein Dieb pirschte er sich voran und wählte mit sicherem Blick den kürzesten Weg zu den großen Gebäuden auf dem Hügel. Wenig später hatte er sein vorläufiges Ziel erreicht.
Was nun?
Abbas verharrte im Schutz einer Mauer und blickte sich um. Alles war ruhig und dunkel, ein jeder schlief. Selbst von seinem erhöhten Standort aus konnte er nur eine Hand voll Häuser erkennen, deren Fenster erleuchtet waren.
Wo sollte er mit der Suche beginnen? Abbas überlegte fieberhaft.
Das Wiehern eines Pferdes zerriss die nächtliche Stille. Gleich darauf waren Hufschlag und die gedämpften Stimmen zweier Männer zu hören, die sich aufgebracht in einer fremden Sprache unterhielten. Abbas presste sich dicht an die Wand und spähte vorsichtig um die Ecke. Im schwachen Schein der Monde, die ihr Antlitz hinter einem dünnen Wolkenschleier verbargen, erkannte er zwei Uzoma, die ihre Pferde am Zügel führten. Einer von ihnen gestikulierte wild, und beide schienen sehr verärgert zu sein.
Das sind sie!
Abbas Herz hämmerte so laut, dass er fürchtete, die Uzoma könnten es hören. Mit angehaltenem Atem beobachtete er, wie die Krieger die Pferde über den freien Platz zwischen den Gebäuden führten und schließlich auf der anderen Seite hinter der Hügelkuppe verschwanden.
Abbas zögerte nicht. Irgendwo dort, wo die Uzoma herkamen, musste auch Maylea sein. Er lauschte. Hufschlag und Stimmen waren verklungen. Mit einem raschen Blick in alle Himmelsrichtungen vergewisserte er sich, dass niemand in der Nähe war. Dann wagte er sich aus seinen Versteck und schlich vorsichtig zu der Stelle, an der er die Krieger zuerst gesehen hatte.
Licht!
Durch das Fenster eines niedrigen Gebäudes, das an einen prächtigen Tempel angebaut worden war, fiel ein dünner Lichtstreifen auf den Boden neben der Tür.
Maylea?
Abbas verspürte den dringenden Wunsch loszulaufen, doch in diesem Augenblick entdeckte er noch etwas: Unmittelbar vor der Tür stand ein Uzomakrieger. Die Arme hinter dem Rücken verschränkt, blickte er wachsam in die Dunkelheit hinaus – für Abbas ein unüberwindliches Hindernis.
»Emos zornige Kinder!« Der junge Wunand fluchte leise. So konnte es nicht enden, nicht nach alldem, was er auf sich genommen hatte. Es durfte einfach nicht sein, dass er so kurz vor dem Ziel scheiterte!
Abbas lehnte sich an die Wand und blickte entmutigt nach Osten, wo ein schmaler grauer Streifen am Horizont den neuen Tag ankündigte.
Was konnte er tun? Dem Krieger in einem offenen Zweikampf gegenüberzutreten war aussichtslos. Sobald dieser ihn entdeckte, würden ihm vermutlich Dutzende von Uzoma zur Hilfe eilen.
Für einen Augenblick bedauerte Abbas, die Wurfsterne des Ajabani nicht mitgenommen zu haben. Die lautlose Waffe wäre genau das Richtige, um den Krieger aus großer Entfernung …
Abbas stutze. Er hatte zwar keine Wurfsterne, aber … Mit klopfendem Herzen durchwühlte er seinen Rucksack und fand schon bald, wonach er suchte: drei kurze blanke Messer, die er vor seinem heimlichen Aufbruch aus der Küche der Festung gestohlen hatte. Messerwerfen war ein beliebter Zeitvertreib der Küchenjungen in Sanforan gewesen, und Abbas hatte es darin zu einer wahren Meisterschaft gebracht. Der junge Wunand verzog die Lippen zu einem dünnen Lächeln und spähte zu dem Wachposten hinüber. Die Entfernung war groß. Entschlossen, das Wagnis dennoch einzugehen, fasste er eines der Messer mit zwei Fingern an der Spitze und machte sich bereit.
»Versager, Tölpel, Dummköpfe!«
Im selben Augenblick, als er zum Wurf ausholte, wurde die Tür neben dem Wachtposten aufgerissen, und eine dunkelhaarige, in kostbare Gewänder gekleidete Frau stürzte hinaus. Ihre sonst wohl noblen Züge waren vor Zorn verzerrt. Außer sich vor Wut überschüttete sie den Uzoma mit einer Flut übelster Beschimpfungen, dass dieser sich duckte und an die Hauswand zurückzog.
»Sie ist es nicht!«, fuhr sie den Krieger an und
Weitere Kostenlose Bücher