Das Erbe der Runen 01 - Die Nebelsängerin
nicht.
Selbst als die Flammen einer gewaltigen Feuersäule fauchend vor ihr in die Höhe schossen, blieb sie gefasst. Sie hatte keine Angst vor dem, was kommen würde, fürchtete sich nicht davor, ihrem Meister zu berichten, dass die Nebel erneut gewoben worden waren.
Vhara hatte sich das, was sie sagen wollte, gut überlegt. Sie war eine Meisterin der Lüge, vor allem dann, wenn es darum ging, eigene Fehler zu verdecken und sich selbst schadlos zu halten. Es würde ihr keine Mühe bereiten, ihrem Meister glaubhaft zu versichern, dass die Uzoma die alleinige Schuld an der misslungenen Eroberung Nymaths traf. Sie musste nur standhaft sein und durfte nicht wanken, dann würde er ihr auch diese Lüge abnehmen. Ein paar gut gewählte Worte würden seinen Hass auf die Elben und die Ungläubigen weiter schüren. Und dann – Vhara lächelte – würde sie die vermeintliche Niederlage nutzen, um endlich jene Unterstützung zu erhalten, nach der es sie so sehr verlangte …
Inzwischen hatte das Feuer seinen Höhepunkt erreicht. Brüllend schlugen die Flammen in die Höhe. Es war ein ewiger, unzerstörbarer Brand, entfacht durch die Macht eines einzigen Gottes.
»Meister!« Der tosende Feuersturm hetzte Vhara das Wort von den Lippen. Sie sank auf die Knie und senkte demütig das Haupt. »Deine getreue Dienerin erbittet, zu dir sprechen zu dürfen.«
Für endlose Herzschläge blieben das Fauchen und Tosen der lodernden Flammenzungen das einzige Geräusch im Tempel, dann verdunkelten sich die Lohe zu der Farbe frischen Blutes, und eine dröhnende, körperlose Stimme antwortete: »Komm!«
Es war soweit. Vhara erhob sich, verdrängte alle störenden Gedanken, kreuzte die Hände vor der Brust und trat ohne zu zögern mitten in die Flammen hinein. Die Schlacht war verloren, nicht aber der Krieg. Sie war entschlossen, den Vereinigten Stämmen erneut die Stirn zu bieten, ohne sich ein weiteres Mal auf die Hilfe Sterblicher zu verlassen. »Nebelsängerin, diesmal gehst du als Siegerin aus dem Kampf hervor. Aber du hast noch nicht gewonnen«, schwor sie in Gedanken. »Ich werde dir das Amulett entreißen. Ich werde es mir holen, das schwöre ich!«
»Maylea! Oh, Maylea, was haben sie dir angetan?« Besorgt kniete Abbas neben der jungen Wunand und strich ihr über die Wange. Sie war bei Bewusstsein. Ihr Gesicht war angeschwollen, und die Lider flatterten, als sie versuchte, die Augen zu öffnen.
»Wasser!« Ihre rissigen Lippen formten das Wort so mühsam, als litte sie große Schmerzen.
»Ich habe Wasser. Warte!« Abbas richtete sich auf, schaute sich um und fand eine Halterung an der Wand, in die er die Fackel stecken konnte. Dann kniete er sich hinter Maylea und griff nach dem Wasserschlauch. Vorsichtig fasste er sie bei den Schultern, richtete sie zum Sitzen auf, indem er sie mit seinem Körper stützte, und gab ihr zu trinken.
Gierig nahm Maylea das Wasser in sich auf, schluckte und hustete und gebärdete sich wie wild, als Abbas den Wasserschlauch wegzog, damit sie nicht alles wieder erbrach. Das Trinken hatte Maylea erschöpft. Sie war bei Bewusstsein, doch allein schon der Versuch, die Augen offen zu halten, scheiterte kläglich. Kraftlos lag sie in Abbas’ Armen, der sie fürsorglich stützte.
Aber Maylea war zu schwer, als dass er sie weit hätte tragen können, und so war er gezwungen zu warten, bis ihre Kräfte zurückkehrten.
Die Zeit verrann lautlos in der Dunkelheit der kleinen Zelle. Nur der schmale Lichtstreifen der aufgehenden Sonne, der immer kürzer wurde, während er langsam am Boden entlangwanderte, ließ Abbas die verstrichene Zeit erahnen. Je weiter der Lichtschein voranschritt, desto unruhiger wurde er. Jeden Augenblick konnte die Wachablösung kommen. Er durfte sich nicht länger hier aufhalten. Jeder Atemzug, jeder Herzschlag, der verstrich, konnte verhängnisvolle Folgen für sie haben.
»Maylea!« Sanft rüttelte er die junge Wunand an der Schulter. »Wach auf, Maylea. Wir müssen hier raus!« Nur mit Mühe gelang es ihm, die verletzte Amazone den Fängen des Schlafs zu entreißen, doch als sie schließlich die Augen aufschlug, war ihr Blick klar. »Abbas?« Ungläubig starrte sie ihn an. »Wie … Was tust du hier?«
»Später!«, sagte er. Eine drängende Unruhe hatte von ihm Besitz ergriffen, und das Gefühl, auf der Stelle von hier verschwinden zu müssen, wurde fast übermächtig. So viel Zeit war verstrichen, kostbare Zeit, die ihnen eine sichere Flucht ermöglicht hätte.
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