Das Erbe der Runen 01 - Die Nebelsängerin
standen die Tränen in den Augen. »Sie müssen erfahren, dass die Nebel wieder über dem Arnad stehen. Dass Mütter und Söhne, Frauen und Männer, Schwestern und Brüder auf ewig getrennt sind durch tödliche Magie.« Er seufzte klagend. »Tausende Kinder werden ihre Väter niemals wieder sehen. Der Traum von der Rückkehr in die grünen Lande ist für immer zerstört. Ihr müsst ihnen die Wahrheit sagen. Die Uzoma in Udnobe haben ein Recht darauf zu …«
»Recht? Maße dir nicht an, mir zu sagen, was Recht ist«, fuhr Vhara Kwamin an. Der alte Seher kniete mit gefalteten Händen vor ihr auf dem Boden und blickte voller Verzweiflung zu ihr auf. »Was diese Metzen und Bälger wünschen, schert mich nicht«, erklärte Vhara kalt. »Ich werde es ihnen mitteilen, wenn ich es für richtig halte. Dein Volk hat jämmerlich versagt. So viele Winter haben der Whyono und ich uns aufgeopfert, euch zu einen, euch mächtige Waffen wie die Lagaren zu geben und euch zu eurem Recht zu verhelfen. Und nun? Was ist der Dank dafür? Eure besten Krieger sind einer läppischen Täuschung erlegen, die jedes Kind hätte durchschauen können. Dass die Nebel neu gewoben wurden, ist einzig und allein ihre Schuld.« Das Feuer in den Augen der Priesterin war noch nicht erloschen. Mit glutroten Augen, die nichts Menschliches an sich hatten, trat sie auf den Seher zu, der sich hastig duckte. »Und du?«, fragte sie voller Verachtung. »Du und deine jämmerlichen Mahouiknochen! Auch du hast versagt. Oder hast du etwa vorhergesehen, was kommen würde?«
»Ich? Nein … Ich …«, stammelte Kwamin. Er zitterte am ganzen Leib. »Ich …«
»Es gibt zwei Möglichkeiten«, fuhr Vhara mit schneidender Stimme fort. »Entweder, du hast es gesehen und es mir verschwiegen, weil du ein elender Verräter bist …«
»Nein … o nein, ich …«
»… oder du hast es nicht gesehen, weil du ein unfähiger und lausiger Scharlatan bist. Aber beides …«, sie nahm einen glänzenden Pokal von dem Altar, der neben der erloschenen Feuerstelle stand, und stellte ihn knapp vor Kwamin auf den Boden,»… beides wäre zutiefst bedauerlich.« Langsam schritt sie um den knienden Seher herum, der voller Panik auf den Pokal starrte. »Hohepriesterin«, sagte er mit furchtsamer Stimme. »Ihr … Ihr kennt mich … ich bin Euch treu ergeben, habe Euch stets gute Dienste geleistet. Ich … ich würde nie … niemals …«
»Ein treuer Diener, ja, das warst du.« Vharas Stimme hatte einen unheilvollen Klang angenommen. Sie stand nun genau hinter Kwamin. Ohne dass er es sehen konnte, zog sie einen funkelnden Opferdolch unter ihrem Gewand hervor, beugte sich über den Seher und zischte ihm ins Ohr: »Treu bis in den Tod!« Mit einer blitzschnellen, geübten Handbewegung umfasste sie Kwamins Kinn, bog seinen Kopf nach hinten und durchtrennte die Kehle mit einem raschen Schnitt. Ein Schwall hellroten Blutes schoss aus der klaffenden Wunde und ergoss sich in pulsierenden Stößen in den Pokal. Der Seher riss in ungläubigem Entsetzen die Augen auf und öffnete den Mund zu einem lautlosen Schrei. Er zuckte noch einmal, dann erlosch das Licht in seinen Augen, und der Körper erschlaffte.
Vhara hielt ihn fest, bis der Strom des Blutes versiegte und der Pokal gefüllt war. »Es ist wahrlich unverzichtbar, so treue Diener um sich zu wissen«, sagte sie, stieß den leblosen Körper mit einem verächtlichen Fußtritt zur Seite und fügte hinzu: »Und es ist immer gut, jemanden zu haben, der die alleinige Verantwortung für das eigene Versagen übernimmt.« Ein spöttisches Lächeln huschte über ihre Lippen, als sie sich bückte und den mit Blut gefüllten Pokal in die Hand nahm.
Von der Verzweiflung und Wut, die sie auf dem Platz vor dem Tempel gezeigt hatte, war nun nichts mehr zu spüren. Gemessenen Schrittes trat sie auf die runde, rußgeschwärzte Feuerstelle zu, hob den Pokal anbetend in die Höhe und goss das noch warme Blut des Sehers mit den Worten »Lerando semo edu ntere!« in den bodenlosen Schlund der Grube.
Ein dumpfes, mächtiges und unheimliches Dröhnen erfüllte den Raum, das aus der Tiefe dieses Schlundes heraufschallte und den Boden erbeben ließ.
Vhara wankte nicht. Gefasst stand sie am Rand der Grube und wartete.
Das Dröhnen wurde lauter. In der Tiefe zeichnete sich ein unheilvoller roter Lichtschein ab, der rasch heller wurde. Ein heißer Wind, der den Glutatem des Feuers in sich trug, fegte von unten herauf, doch noch immer rührte sich die Priesterin
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