Das Erbe der Runen 01 - Die Nebelsängerin
gebracht hatte, breitete sich eine große Unruhe in der Stadt aus. In den Gassen und Wirtshäusern machten seit dem gestrigen Morgen unzählige Gerüchte die Runde, und obwohl vermutlich nur die wenigsten von ihnen einen Funken Wahrheit enthielten, trieben sie die wildesten Blüten.
Inzwischen waren Keelin so unglaubliche Dinge zu Ohren gekommen, dass er beschlossen hatte, sich nicht mehr an den Gesprächen zu beteiligen und abzuwarten, was der Hohe Rat den Bewohnern der Stadt am Nachmittag mitteilen würde. Ursprünglich hatte die Ratsversammlung die Entscheidung über das weitere Vorgehen bereits am vergangenen Abend bekannt geben wollen, doch die Beratungen hatten sich bis tief in die Nacht hinein erstreckt, und schließlich waren jene, die nach Einbruch der Dunkelheit vor den Toren der Bastei ausgeharrt hatten, von den Bediensteten mit den Worten »Der Hohe Rat tagt noch. Kommt morgen wieder!« nach Hause geschickt worden.
Wie den allerorts lautstark geführten Gesprächen zu entnehmen war, plante der Hohe Rat offensichtlich die Evakuierung der Stadt. Vereinzelt gab es sogar Gerüchte, die Nebelsängerin sei zurückgekehrt, um die Magie der Nebel erneut zum Leben zu erwecken. Doch Keelin war sich sicher, dass dies nur den wirren Gedanken eines Träumers entsprungen sein konnte. Jeder wusste, dass die Nebelsängerin das Land im Stich gelassen hatte. Vermutlich war sie gestorben, ohne das Erbe an eine Nachfolgerin zu übergeben, oder die Nachfolgerin weigerte sich, den Menschen Nymaths zu Hilfe zu kommen. Aber auch das waren lediglich Vermutungen. Keiner, nicht einmal die Elben, die über viele Generationen hinweg mit der Nebelsängerin in Verbindung standen, konnten sagen, was wirklich geschehen war. Der geteilte Mondstein, den die Elben viele hundert Winter lang gehütet hatten und dessen andere Hälfte sich im Besitz der Nebelsängerin befand, war den Uzoma bei einem der ersten Überfälle in die Hände gefallen – damals, als der Pass noch nicht so stark befestigt gewesen war und die Gebirgskette ausreichend Schlupflöcher für einen Stoßtrupp geboten hatte. Seither war die Steinhälfte unauffindbar und damit auch die einzige Verbindung zur Nebelsängerin unterbrochen. Zunächst hatten die Bewohner Nymaths sich noch an die Hoffnung geklammert, dass sie irgendwann wiederkäme, doch alles Warten blieb vergebens. Die Magie der Nebel war unaufhaltsam geschwunden, und die Uzoma waren mit aller Macht in das Land vorgedrungen. So hatte der Krieg begonnen …
»Abbas, du bist wohl zu oft vom Pferd gefallen! Komm sofort zurück!« Eine herrische Stimme riss Keelin aus seinen Gedanken. Verwundert blickte er auf und sah, wie Abbas, der Küchenjunge, mit einem großen Bündel im Arm in den Speisesaal stürmte. Er war so aufgeregt, dass er den jungen Falkner zunächst nicht bemerkte. Trotzig starrte er eine stämmige Frau in schlichtem grauem Kittel an, die hinter ihm aus der Küche trat. Ihre aufbrausende Art wie auch der dicke Haarzopf und die mollige Statur ließen keine Zweifel an ihrer Abstammung: Sie war eine Kataurin. Keelin kannte sie vom Sehen und wusste, dass sie die Herdmeisterin der Bastei war. Sie galt als entschlossen und unnachgiebig, und oft genügte allein der Gedanke an einen ihrer berüchtigten Wutausbrüche, um Abbas früher als nötig in die Küche zu treiben.
Der Küchenjunge, ein gebürtiger Wunand, sprach stets mit einer Mischung aus Furcht und Respekt von ihr. Wie alle Männer seines Blutes fühlte er sich Frauen gegenüber unterlegen und gehemmt, was ihnen bei den stolzen Fath und Katauren stets Spott und Häme einbrachte. Weil sie niemals die Stimme gegen eine Frau erhoben und sich dem Willen der Ältesten widerspruchslos fügten, galten die Männer der Wunand gemeinhin als verweichlicht, doch heute war nichts davon zu spüren. Abbas hielt das Bündel fest umklammert, und sein Gesicht zeigte eine wilde Entschlossenheit, die Keelin überraschte. »Ihr könnt mich nicht aufhalten«, rief er auf eine Weise, die deutlich machte, dass er keine Übung darin hatte, für sich zu sprechen. »Es ist mein Leben!« Er stampfte mit dem Fuß auf. »Ein langweiliges Küchenjungenleben. Tagaus, tagein nichts als schrubben und wischen. So kann ein Mann keinen Ruhm erringen. Ich gehe. Und niemand wird mich daran hindern!« Er wandte sich um und machte ein paar Schritte auf Keelin zu, der die seltsam anmutende Szene mit einer Mischung aus Erstaunen und Verständnislosigkeit beobachtete. Abbas drehte sich noch
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