Das Erbe der Runen 01 - Die Nebelsängerin
verschlossen. Bis auf den kleinen Tisch voller Bücher und Pergamente, der von Talglichtern in einem vierarmigen Leuchter erhellt wurde, lag der Raum weitgehend im Dunkeln.
Schuld daran war ein Sandsturm, der Udnobe, die Hauptstadt des Uzomareiches, seit dem vergangenen Abend heimsuchte und bislang nichts an Stärke eingebüßt hatte. Ein heißer Wind fegte unablässig von der nahen Wüste heran und trug den feinkörnigen roten Sand des Nunou, des großen Nichts, wie die Uzoma die Wüste nannten, bis an die fernen Hänge des Pandarasgebirges. Während er sich dort als dünne Schicht auf den Blättern der Büsche ablagerte, hatte es in Udnobe inzwischen den Anschein, als wäre die Stadt selbst ein Teil der Wüste geworden. Der Sand türmte sich in den windgeschützten Ecken in Form von kleinen Dünen und bedeckte Straßen und Wege mit einer fingerdicken, rostroten Schicht.
Der Wind fegte den Sand durch offene Fugen und Spalten bis ins Innere der niedrigen Hütten, und selbst die aus dichtem Schilfrohr geflochtenen Fensterläden vermochten ihn nicht aus den Gemächern der Hohepriesterin fern zu halten. Im flackernden Schein der Talglichter war gut zu erkennen, dass das Gemach von einem feinen Nebel durchdrungen war, der zu Boden sank und sich über alles legte, was sich im Raum befand.
Mit jedem Schritt wirbelte das lange Gewand der Hohepriesterin feine Staubwolken auf, und die Wege, auf denen sie das Zimmer seit geraumer Zeit ruhelos durchwanderte, zeichneten sich als dunkle Spuren in der Staubschicht ab.
Vhara war außer sich. Sie hasste es, warten zu müssen. Warten bedeutete untätig zu sein, und gerade jetzt, da ihr die Zeit zwischen den Fingern zerrann, war Tatenlosigkeit das schlimmste Übel. Dies war der letzte Tag, an dem es ihr möglich war, über die Grenzen der Welten hinweg einen vernichtenden Schlag gegen die Erbin des Runenamuletts zu führen, welche als Einzige noch die Fähigkeit besaß, die Magie der Nebel neu zu erwecken.
Vhara stieß einen zornigen Laut aus und ballte die Fäuste. Es blieb kaum noch Zeit, das Ritual zu vollziehen, doch an diesem Tag schien sich sogar das Wetter gegen sie verschworen zu haben. Die ganze Nacht hindurch hatte sie versucht, einen Zauber gegen den Sandsturm zu wirken, aber dieses Mal waren selbst jene Rituale unwirksam geblieben, die sie in der Vergangenheit schon so oft erfolgreich angewandt hatte.
Das dumpfe Gefühl, dass der Sturm keines natürlichen Ursprungs war, hatte sich mit jedem fehlgeschlagenen Zauber erhärtet und die Wut der Hohepriesterin weiter geschürt. Hier mussten Kräfte am Werk sein, die mit aller Macht zu verhindern suchten, dass die Blutlinie endgültig ausgelöscht wurde …
Es klopfte.
»Wer ist da?« Vhara war so aufgebracht, dass in ihren Worten keinerlei Freundlichkeit mitschwang.
»Kwamin, Seher und Heilermeister des ehrwürdigen Whyono.«
»Kwamin!« Vharas düstere Miene hellte sich ein wenig auf. »Endlich! Tritt ein.«
Die Tür wurde geöffnet, und ein alter Mann mit fast weißen Augenbrauen betrat den Raum. Viele Winter hatten ihm den Rücken gebeugt, und er musste sich auf einen Stock stützen, als er das Gemach schleppenden Schrittes durchquerte. Als sichtbares Zeichen seines Standes trug er einen reich bestickten, langen Umhang, der in der Taille von einem breiten, perlenbesetzten Gürtel gehalten wurde und die Arme unbedeckt ließ. Um die Unterarme wanden sich unzählige bunte Bänder bis hinauf zu den Ellenbogen, deren ungeheure Masse den Eindruck erweckte, der Alte könne das Gewicht kaum tragen. Jedes einzelne Band stand für eine ehrenvolle Tat. Auf dem kahl geschorenen Haupt trug er die traditionelle Kopfbedeckung der Uzoma, eine Kappe aus dunklem Gewebe, die in gleichmäßigen Abständen mit hellen Quasten besetzt war und ihm wie eine falsche Haartracht bis auf die Schultern hinabreichte.
Sein Gesicht mit der großen Hakennase zeigte keine Regung, als er vor die Hohepriesterin trat und respektvoll eine Verbeugung andeutete.
»Wo ist sie?« Vhara gab sich keine Mühe, ihre Ungeduld vor dem Heilermeister zu verbergen.
»Nun …« Kwamin zögerte und senkte den Blick.
»Nun was?«
»Ihr wisst ja, der Sandsturm …«, fuhr der Heilermeister zögernd fort. »Wir haben alle in Frage kommenden Frauen überprüft, doch innerhalb dieser Mauern war keine zu finden, die Euren Vorstellungen entspricht.«
»Nicht eine?« Vhara schlug mit der Faust so heftig auf den Tisch, dass sich eine rote Staubwolke über den Büchern
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