Das Erbe der Runen 01 - Die Nebelsängerin
und Pergamenten erhob. »Nicht eine?«, zischte sie gefährlich noch einmal ruhig. »Soll das heißen, dass alle angeblichen Jungfrauen, mit denen die Stammesfürsten den Harem des Whyono füllen, nicht das sind, was sie zu sein vorgaben?«
»Verzeiht, aber vielleicht sind sie es ja auch nur nicht mehr«, wagte der Heilermeister einzuwenden.
»Nicht mehr?« Vhara lachte, doch es lag keine Freude darin. »Glaubst du wirklich, der Whyono könnte sich all diesen reizenden Geschenken widmen? Wie viele Frauen sind es? Fünfzig, sechzig? Er sammelt sie wie du deine verdreckten Bänder, aber besteigen will er nur die wenigsten. Also, raus mit der Sprache. Wo ist die Jungfrau?«
»Es gibt keine!«
»Du lügst!« Vharas Augen funkelten zornig. Sie trat so nahe an den Heilermeister heran, dass sie nur mehr eine Handbreit von dessen Gesicht trennte, und zischte erbost: »Du willst sie doch nur schützen, diese jungen, nichtsnutzigen Dinger. Du lügst, obwohl du weißt, dass du damit das Schicksal deines Volkes auf Spiel setzt. Wenn das Erbe weitergegeben wird und nach Nymath zurückkehrt, ist alles verloren, wofür dein Volk gekämpft hat. Ist es dir das wert? Ist dir das Leben dieser billigen Metzen mehr wert als das Schicksal deines Volkes?«
»Es gibt kein Jungfrau unter den Frauen des Whyono«, beharrte der Heilermeister mit fester Stimme. »Der Whyono selbst war Zeuge bei den Untersuchungen. Fragt ihn, wenn Ihr an meinen Worten zweifelt.«
»Genau das werde ich tun.« Die Hohepriesterin ließ den Heilermeister nicht aus den Augen, um zu sehen, wie er auf ihre Worte reagierte, doch dieser nahm die Ankündigung gelassen auf. »Ich habe nichts zu verbergen«, sagte er mit gleichmütiger Stimme.
»Das werden wir ja sehen!« Vhara deutete zur Tür. »Und nun geh!«
Zwei Tage nach der Entscheidung des Hohen Rates, alle noch verbliebenen kampffähigen Männer an den Pass zu schicken, zog das letzte Aufgebot der Vereinigten Stämme Nymaths unter den dumpfen, rhythmischen Schlägen der Trommeln aus der Stadt. Pferdegeschirr und Waffen klirrten; die prächtigen Banner der fünf Stämme wehten zum Zeichen des unbeugsamen Willens im Wind, und das blank polierte Eisen der Schilde und Rüstungen glänzte im Licht der aufgehenden Sonne.
Gathorion ritt an der Spitze des Heeres. Das hellblonde Haar floss ihm bis zu den Schultern über den dunklen Mantel, den er wie alle, die an diesem Morgen aufbrachen, zum Schutz gegen das kühle und wechselhafte Herbstwetter umgelegt hatte. An seiner Seite ritt Inahwen, stolz und schön. Auf dem Rücken des hellbraunen Falben wirkte sie wie eine Schutzpatronin, welche das Aufgebot der Krieger auf dem Weg in ein ungewisses Schicksal begleitete.
In zweiter Reihe folgten die Katauren: bärtige, grimmig dreinblickende Krieger auf kräftigen, kampferprobten Pferden, deren lange Lanzen wie ein eiserner Wald in den Himmel ragten. Die kunstvoll verzierten Rüstungen des Reitervolks blitzten im Sonnenlicht, und die wehenden Federn an den Helmen verliehen ihnen ein prächtiges Aussehen.
Die Falkner bildeten die erste Gruppe der Fußsoldaten. Ihre schieferfarbenen Umhänge waren auf der Brust mit einer bronzenen Spange geschlossen und verdeckten die grüne Gewandung der Kundschafter, die Bogen und Köcher offen über dem Rücken trugen. Die fertig abgetragenen Falken hockten stolz auf den behandschuhten Armen der jungen Männer und ließen sich selbst durch das Lärmen der Trommler nicht aus der Ruhe bringen, die das Heer bis zum großen Tor der Hauptstadt begleiteten, um es dort zu verabschieden.
Den Falknern folgte das fünfhundert Mann starke Heer der übrigen Fußsoldaten. Die Bannerträger der verschiedenen Stämme bildeten Korridore zwischen den Kriegern. Die Onur, die stärkste Gruppe, gingen voran. Ihre moosgrünen Umhänge waren offen, und sie hatten eine Hand stolz an den Griff der langen Schwerter gelegt, die sie in einer ledernen Scheide am Gürtel trugen. Hinter ihnen kamen die Bogenschützen vom Blute der Raiden. Sie trugen ein buntes geflochtenes Band um die Stirn und ein dunkelblaues Wams, das aufgestickte Federmotive zierten. Die nachfolgenden, in schimmernde schwarze Kaftane gehüllten Fath führten lange, dreizackige Runkas mit sich. Erhobenen Hauptes schritten sie an der Menschenmenge vorbei, die sich zu beiden Seiten der breiten Straße drängte, während eine kleine Gruppe dunkelhäutiger Wunandamazonen mit beeindruckenden Feuerpeitschen an den Gürteln und
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