Das Erbe der Runen 01 - Die Nebelsängerin
der Wunsch, aus ihnen Wahrheit werden zu lassen.
Ihr Vater gehörte zu jenen Schiffbrüchigen, die vor mehr als fünfhundert Wintern an der Küste Nymaths gestrandet waren. Ein furchtbarer Sturm hatte sein Schiff damals von der Elbenflotte getrennt, die dem wandernden Stern auf dem Weg in eine neue Heimat gefolgt war, und es in unbekannte Gewässer getrieben, wo es schließlich an einem verborgenen Riff vor der Küste Nymaths zerschellt war. Von den mehr als dreihundert Elben an Bord waren Dutzende in den Fluten umgekommen. Seit dieser Zeit hatte es nur noch einen einzigen gewaltsamen Tod unter den Elben gegeben, doch daran wollte Inahwen jetzt nicht denken.
Um sich abzulenken, blieb sie an der niedrigen Bactihecke stehen, die den schmalen Weg durch den Garten begrenzte und die neben unreifen Beeten sogar noch einige der auffällig roten Blütenkelche trug. Sie hob den Kopf, und ihr Blick verlor sich in dem bunt gefärbten Blattwerk eines alten Purkabaumes, dessen vom Wind geformte Krone einen Teil des Gartens überschattete. Der Baum war von gewaltigem Wuchs, mit knorriger Rinde und dicken Ästen, die vornehmlich ins Landesinnere wiesen, als verneigte er sich demütig vor der Kraft der Elemente. Er war der einzige Baum entlang der Küste, der, geschützt von den hohen Mauern der Bastei, zu einer solchen Größe herangewachsen war.
Inahwen trat zu dem alten Purkabaum und strich sanft über dessen Rinde. Sie fühlte sich ihm zutiefst verbunden. Oft kam sie in den Garten, um den Wechsel der Monde an der Farbe seiner dreifingrigen Blätter zu ersehen oder in seinem kühlen Schatten zu verweilen. Hier fand sie Trost, wenn das Heimweh sie quälte, und hier schöpfte sie neue Kraft aus der ruhigen Stärke des Baumes.
Doch diesmal saß der Schmerz zu tief. Als Tochter Merdiths war sie vom Rat der Elben vor vielen Wintern zur Gesandten erwählt worden und hatte ihr Wort gegeben, im Hohen Rat von Sanforan für ihr Volk zu sprechen. Stolz hatte sie die Aufgabe angenommen, tapfer Heimweh und Einsamkeit ertragen und selbstbewusst ihre Stimme im Namen der Elben erhoben. Sie hatte viel erreicht, doch in all den Wintern war es ihr nicht gelungen, das zehrende Gefühl des Entwurzeltseins zu überwinden. Ihre Mutter hatte sie nicht wieder gesehen, seit sie nach Sanforan aufgebrochen war, und ihren Vater das letzte Mal in die Arme geschlossen, als er die Krieger der Vereinigten Stämme Nymaths zum Pass geführt hatte, um das Land diesseits des Pandarasgebirges vor den Angriffen der Uzoma zu schützen.
Und jetzt war er tot.
Tot! Das Wort klang seltsam fremd in ihren Ohren. Für die langlebigen Elben war der Tod ein fernes Ereignis und bedeutete stets den friedlichen Abschluss eines langen Weges, den sie im Lauf ihres Lebens gegangen waren. Nur selten kam es vor, dass ein Elb vor Ablauf seiner Zeit in die heiligen Gestade gerufen wurde. Dass ausgerechnet ihr Vater einer dieser Wenigen sein sollte, war für Inahwen nur schwer zu begreifen.
Die junge Elbin spürte, wie die dunklen Wogen der Trauer sie erneut zu überwältigen drohten, und kämpfte dagegen an. Wie alle Elben würde sie sich niemals die Blöße geben, ihre Trauer nach außen zu tragen, aber hier in dem einsamen Garten fühlte sie sich unbeobachtet. Bekümmert legte sie die Arme an den Stamm des kräftigen Purkabaumes, presste die Stirn gegen die Rinde, schloss die Augen und gönnte sich einen bittersüßen Augenblick der Erinnerung an glücklichere Zeiten.
Inahwen war in den undurchdringlichen Wäldern am Fuße des Pandaras aufgewachsen – jenem Landstrich, den die Menschen den gestrandeten Elben vor mehr als fünfhundert Wintern zum Dank für die Hilfe im Kampf gegen die Uzoma übereignet hatten. Damals, als die Nebel noch unversehrt waren und die Elbenmagie sich als mächtig genug erwies, das Land vor den Angriffen der Uzoma zu schützen …
Doch diese Zeit gehörte der Vergangenheit an. Die Wälder Nymaths waren längst nicht mehr so friedlich wie damals, aber immer noch lebten Elben in ihnen. Inahwens Mutter und jene, die nicht mit den Kriegern in den Kampf gezogen waren, brachten es nicht über sich, die neue Heimat zu verlassen, denn dort war die Erinnerung an die verlorenen Lande nach wie vor lebendig. Die Erinnerung an jene alte Heimat, welche allein die Älteren noch mit eigenen Augen gesehen hatten und welche die Jüngeren nur aus den Legenden kannten. Merdith hatte Inahwen und ihrem jüngeren Bruder Gathorion oft davon erzählt. Es waren Legenden, die
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