Das Erbe der Runen 01 - Die Nebelsängerin
einem kurzen Speer in den Händen den Abschluss bildete.
Alle Bewohner Sanforans waren an diesem Morgen herbeigeeilt, um dem Aufbruch des Heeres beizuwohnen. Dicht gedrängt säumten sie den Rand der gepflasterten Straße, die von der Bastei zum großen Tor führte, oder standen auf Mauern und Balustraden, warfen den Kriegern Blumen zu und winkten ihnen Lebewohl. Doch obgleich die farbenprächtigen Banner Hoffnung und Zuversicht verhießen, war kein fröhliches Lachen zu vernehmen. Die Alten und Schwachen, die Frauen und Kinder, die in Sanforan zurückblieben, winkten den Vätern und Söhnen mit tränennassen, verzweifelten Gesichtern nach, und selbst die Mitglieder des Hohen Rates, die auf dem Wehrgang über dem großen Tor zusammenstanden, um dem farbenprächtigen Schauspiel beizuwohnen, betrachteten den breiten Strom der Krieger mit sorgenvoller Miene.
Sanforan blutete aus.
Auch Kelda, die Herdmeisterin der Bastei, hatte die Küche verlassen, um Abschied zu nehmen. Unter denen, die an diesem Morgen auszogen, das Land zu verteidigen, waren viele, die sie schon von Kindesbeinen an kannte. Halbwüchsige junge Männer, die ihrer Meinung nach besser noch ein paar Winter am heimischen Herd hätten bleiben sollen und jetzt wie gestandene Krieger einem ungewissen Schicksal entgegen gingen. Viele vertraute Gesichter zogen im monotonen Takt der Trommelschläge an ihr vorüber, doch es gab nur einen, nach dem sie wirklich Ausschau hielt – Abbas.
Nachdem sie ihn am Vortag vergeblich davon abzuhalten versucht hatte, sich dem Heer anzuschließen, war sie ihm nicht mehr begegnet und hatte kein Wort mehr mit ihm wechseln können. Mit den wenigen Habseligkeiten, die er sein Eigen nannte, hatte der Küchenjunge an der Seite des jungen Falkners den Speisesaal verlassen, ohne sich noch einmal umzudrehen.
Ihre traurigen Blicke, die ihm durch die halb geöffnete Tür der Küche gefolgt waren, hatte er nicht gespürt. Sie hatte ihn zurückrufen wollen, doch ihr Stolz hatte es nicht zugelassen, dass sie ihm ein versöhnliches Wort zum Abschied mit auf den Weg gab. Der Stolz war es auch gewesen, der sie zurückgehalten hatte, als sie die Tür noch einmal hatte öffnen wollen, um den Küchenjungen, der ihr wie kein anderer ans Herz gewachsen war, ein letztes Mal in die Arme zu schließen. Fast hätte er sie auch daran gehindert, jetzt hier zu sein.
Lange hatte sie mit sich gerungen, während die Nacht voranschritt und der Morgen nahte. Und selbst als sie hörte, wie sich die anderen aufmachten, als das Heer sich sammelte, zögerte sie noch immer.
Keine Herdmeisterin in Sanforan hat je einem Küchenjungen nachgetrauert, hatte sie sich immer wieder eingeredet. Abbas hatte Recht gehabt mit seinen Worten, es gebe genügend Jungen, die seine Arbeit erledigen konnten. Und doch: Es gab nur einen Abbas. Hatte sie ihm je gezeigt, was sie für ihn empfand? Ihn je spüren lassen, dass er ihr der Sohn war, den sie nie geboren hatte?
Und wenn er nicht zurückkäme?
Diese Fragen hatten sie die ganze Nacht hindurch gequält.
Was, wenn ich ihn niemals wieder sehe?
Schließlich, fast schon zu spät, hatte sie sich doch auf den Weg zum Tor begeben. Als sie die gepflasterte Straße erreichte, waren die Katauren und Falkner bereits vorbeigezogen. Um besser sehen zu können, drängte sie sich rücksichtslos durch die dichte Menge nach vorn, schnaubend wie ein Streitross, den Blick auf die vorbeimarschierenden Krieger gerichtet und ohne auf die empörten Ausrufe der anderen Zuschauer zu achten. Sie musste Abbas noch einmal sehen.
Atemlos und mit vor Anstrengung gerötetem Gesicht erreichte Kelda die vordersten Reihen der Zuschauer und beobachtete aufmerksam das vorbeiziehende Heer. Gerade durchschritten die Wunandamazonen als letzte Kriegerinnen den Torbogen. Ihnen folgte der Wagentross mit Vorräten, Heilkräutern, Waffen, Werkzeugen, Rüstungen und allem, was am Pass sonst noch dringend benötigt wurde. Die eisenbeschlagenen Räder der Wagen rumpelten träge über das buckelige Pflaster, und die Pferde, denen man Scheuklappen angelegt hatte, schnaubten unwillig wegen des Lärms und der schweren Lasten. Neben den Pferden gingen jene, die man dem Tross zugeteilt hatte, Knappen, die zu unerfahren zum Kämpfen waren, Botengänger und Männer, die für die Verpflegung des Heeres zuständig waren.
Kelda reckte den Hals und stellte sich auf die Zehenspitzen, um besser sehen zu können. »Heilige Götter, lasst mich nicht zu spät gekommen sein«,
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