Das Erbe der Runen 01 - Die Nebelsängerin
wundersame Weise verbunden.
Ajana hatte schon viele Lieder gehört, doch diese Weise blieb unvergleichlich. Die Stimme sang weiter, voller Sehnsucht und suchend. Und dann, ganz plötzlich, wurde es still.
Ein Traum?
Ajana öffnete die Augen und schaute sich um.
Draußen herrschte inzwischen tiefdunkle Nacht. Dichte Wolken hatten sich vor den Mond geschoben, und ein heftiger Wind fegte durch die Vorgärten. Wütend rüttelte er an den niedrigen Büschen, fuhr rauschend durch die Bäume und schleuderte eisige Regentropfen gegen die Fensterscheibe.
Ajana tastete nach der Tischlampe, als jäh ein Blitz den Vorgarten taghell erleuchtete.
Sie erstarrte mitten in der Bewegung. Dort draußen war etwas. In dem kurzen Augenblick, da der Blitz den Garten erhellte, glaubte sie eine Gestalt zu erkennen. Eine dunkle Gestalt in einem langen schwarzen Mantel, deren Gesicht von einem breitkrempigen Hut verdeckt wurde. Eine Gestalt, die genauso aussah wie dieser eigentümliche Mann, der ihr auch schon am Bahnübergang begegnet war.
Endlose Sekunden verstrichen, in denen Ajana sich nicht zu rühren wagte. Aus der Dunkelheit glaubte sie seine Blicke zu spüren. Sie versuchte sich einzureden, dass sie sich täuschte, doch das Gefühl von Bedrohung wollte nicht weichen.
Dann zuckte draußen erneut ein Blitz, und ein gewaltiger Donnerschlag erschütterte das Haus. Die gleißende Helligkeit erlosch im Nu, doch diese winzige Zeitspanne genügte, um Ajana Gewissheit zu verschaffen: Die Gestalt im Garten war fort.
Licht!
Suchend tastete sie über den Schreibtisch.
Wenn sie doch nur etwas sehen könnte!
Endlich stießen ihre Finger gegen den vertrauten runden Lampenfuß, ertasteten den Schalter, und ein kleiner Lichtkegel vertrieb die Dunkelheit. Eilig zog Ajana die Vorhänge zu, nahm ihren Plüschbären fest in den Arm und lauschte mit angehaltenem Atem in die Dunkelheit.
Der Wind strich nur noch leicht durch den Garten, der Regen hatte nachgelassen, und es blitzte und donnerte nicht mehr.
Welch eine unheimliche Nacht! Ajana atmete tief durch. Während sie wartete, dass sich ihr Herzschlag wieder beruhigte, sah sie sich im Zimmer um. Die vertrauten Gegenstände, die sie im Laufe der Jahre gesammelt hatte, wirkten beruhigend auf ihre überreizten Sinne, und sie spürte, wie die seltsamen Ereignisse allmählich an Schrecken verloren.
Ajana gähnte.
Es war schon spät, und sie war müde. Die geheimnisvolle Gestalt im Garten hatte es sicher nie gegeben, und auch die Musik war vermutlich nur ihrer Phantasie entsprungen. Obwohl … Nein! Es war alles in Ordnung.
Ajana gähnte erneut. Sie trat zum Schreibtisch und suchte nach der Schatulle des Amuletts, fand aber nur das Foto und den Deckel des Kästchens.
Schließlich entdeckte sie es auf dem Boden. Das Seidenpapier war herausgefallen und lag daneben. Als Ajana sich bückte, fiel ihr Blick auf ein gefaltetes Stück Papier, das ganz unten in der Schatulle klemmte. Es war stark vergilbt, wie eine alte Zeitung, aber die Tinte hob sich noch deutlich vom Untergrund ab.
Ajana legte das Amulett und das Seidenpapier auf den Schreibtisch, zog die Lampe näher heran und setzte sich, um den seltsamen Fund genauer zu betrachten. Vorsichtig löste sie das Blatt mit zwei Fingern aus dem Schachtelboden. Das Papier fühlte sich an wie altes Pergament; es knisterte und widersetzte sich so hartnäckig dem Versuch, es zu glätten, dass Ajana schon fürchtete, es könne brechen. Als sie das Blatt entfaltet hatte, hielt sie inne, um sich die Schriftzeichen darauf genauer anzusehen. Was zunächst wie seltsame Buchstaben ausgesehen hatte, entpuppte sich als Aneinanderreihung von Strichen und Punkten, die in unsauberer Handschrift auf mehreren Linien quer über das Blatt gesetzt worden waren.
Ein Notenblatt! Plötzlich erinnerte sie sich daran, was ihr Vater am Nachmittag gesagt hatte: Mabh war in den zwanziger Jahren eine berühmte irische Sängerin gewesen.
Aber warum hatte ihre Urgroßmutter ein Notenblatt in die Schachtel gelegt und unter dem Seidenpapier versteckt? Ajana überlegte. Vielleicht war es ja eine Melodie zu dem Schmuckstück oder ein Liebeslied, demjenigen gewidmet, der ihr einst das Amulett geschenkt hatte. Ajana geriet ins Schwärmen. Eingehend besah sie das Blatt von beiden Seiten. Doch ihre Hoffnung, auf weitere Hinweise zu stoßen, erfüllte sich nicht. Außer einer kurzen Notiz, die auf die Rückseite des Papiers gekritzelt war, konnte sie nichts finden.
No tiriel mellon en
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