Das Erbe der Runen 01 - Die Nebelsängerin
doch die Füße bewegten sich nicht von der Stelle. Schluchzend umfasste sie die Knöchel mit den Händen und zerrte daran – vergeblich! Tränen liefen ihr über das Gesicht. Nie zuvor hatte sie sich so hilflos und verlassen gefühlt, nie zuvor eine solche Angst verspürt wie in diesem Augenblick. Sie wollte schreien und um Hilfe rufen, doch es drang kein Ton über ihre Lippen.
Wie von Sinnen zerrte sie an ihren Fußknöcheln – und plötzlich war sie frei …
Ajana riss die Augen auf und schnappte nach Luft. Es dauerte eine Weile, doch dann beruhigte sie sich, und der Nachhall des Traums entließ sie langsam aus seinen Fängen.
Warum war es noch so dunkel?
Nur ganz allmählich gelang es ihr, die Gedanken zu ordnen. Sie erinnerte sich daran, dass sie in der Nacht aus Furcht die Vorhänge zugezogen hatte. Schnell schlüpfte sie aus dem Bett, trat zum Fenster und schob sie beiseite. Das helle Licht der Morgensonne blendete sie, aber es vertrieb auch die Ängste, die der Albtraum und die Ereignisse der vergangenen Nacht in ihr hinterlassen hatten. Die Wärme der Frühlingssonne tat ihr gut. Sie öffnete das Fenster weit, ließ frische Luft ins Zimmer und atmete tief durch.
Welch ein schöner Morgen! Die Sonne schien, und vor allem: Heute musste sie nicht zur Schule, denn die Lehrer waren auf einer Fortbildungsveranstaltung.
Unten fiel die Haustür ins Schloss. Ajana lehnte sich weit über das Fensterbrett und schaute hinaus. Hinter der Buchenhecke sah sie gerade noch den schwarzen Haarschopf ihres Bruders in Richtung Hauptstraße verschwinden. Auch er hatte heute schulfrei. Ajana wunderte sich, dass er nicht, wie gewöhnlich an solchen Tagen, bis mittags schlief. Doch dann fiel ihr ein, dass er an diesem Morgen eine Fahrstunde nehmen wollte.
»Ajana allein zu Haus«, sagte sie beschwingt und lächelte. Rowen schlug sich mit Verkehrsregeln herum, ihr Vater war seit sieben Uhr aus dem Haus, und ihre Mutter hatte schon früh Dienst in der Praxis, in der sie als Sprechstundenhilfe arbeitete.
Saskia wollte später vorbeikommen und ihre brandneue CD mitbringen. Endlich würde sich mal keiner über die laute Musik beschweren. Ohne das Fenster zu schließen, schlüpfte Ajana in ihre Jeans, zog die neue Bluse an, die sie zum Geburtstag bekommen hatte, und ging hinunter in die Küche.
Schon im Flur empfing sie der abstoßende Geruch von Zigarettenrauch. Das Corpus delicti glomm stümperhaft ausgedrückt im Aschenbecher auf dem Küchentisch vor sich hin.
Typisch Rowen, dachte Ajana, löschte die Kippe unter fließendem Wasser und öffnete des Fenster. Der Küchentisch sah wenig einladend aus: eine angebissene Brötchenhälfte auf einem Teller und daneben eine halb volle Tasse mit kaltem Kaffee. Zwei geöffnete Marmeladengläser gähnten sie an. Der Plastikdeckel der Butterdose lag unter dem Tisch. Rowen hatte es nicht einmal fertig gebracht, die Teller mit Wurst- und Käseaufschnitt zurück in den Kühlschrank zu stellen.
Angewidert von dem Chaos entschied sich Ajana für eine Schüssel mit Müsli. Sie hasste Rowens nachlässige Art, wollte sich den Morgen aber nicht von der Schlampigkeit ihres Bruders verderben lassen. Heute hatte sie frei.
Mit der Schüssel in der Hand hockte sie sich auf den weichen Wohnzimmerteppich und surfte durch die Fernsehprogramme, als das Telefon klingelte.
»Evans«, meldete sie sich. »Hi, Saskia … Oh, schade. Es ist nämlich keiner zu Hause, und wir hätten endlich mal … Ja, ich weiß, da kann man nichts machen. Gute Besserung … Tschüs!«
»Mist!« Die Nachricht, dass Saskia nicht kommen konnte, trübte Ajanas gute Laune beträchtlich. Sie stellte die leere Schale auf den Boden, streckte sich auf dem Teppich aus und genoss es, bei voller Lautstärke in den Musikkanälen zu stöbern.
Nach den Ereignissen der letzten Nacht hatte sie sich eigentlich vorgenommen, heute nicht an das alte Amulett und die vielen ungelösten Rätsel zu denken. Aber nun …
Ehe sie sich versah, war sie schon auf dem Weg in ihr Zimmer, hielt auf der Treppe aber noch einmal inne. Aus dem Fernseher klang eine anrührende Melodie zu ihr herauf. Eine sehr schöne Ballade. Ajana liebte Balladen, und diese war besonders romantisch.
… die Melodie berührte etwas in ihrem Innern …
Während Ajana die Treppe hinaufstieg, klang die Melodie in ihren Gedanken nach. Dabei hatte sie das Gefühl, als hätte sie Teile davon schon einmal gehört. War so etwas möglich? Eine Verbindung zwischen dem alten
Weitere Kostenlose Bücher