Das Erbe der Runen 01 - Die Nebelsängerin
Erlebnissen und weckte in ihm die schmerzliche Erinnerung an seine Familie, die unter den Händen der Uzoma ein ähnlich grausames Ende gefunden hatte. Es waren erst fünf Winter vergangen, da das Gehöft am Fuß des Pandarasgebirges, das er voller Stolz sein Eigen genannt hatte, bis auf die Grundmauern niedergebrannt worden war. Und wie an diesem Morgen hatte er auch damals von einer Anhöhe aus auf die Überreste seines Hofes geblickt und gewusst, dass es nichts mehr zu retten gab.
Ohne dass Bayard es verhindern konnte, überfielen ihn die schrecklichen Bilder, die er seither zu verdrängen suchte. Bilder von verkohlten Körpern, die er mit bloßen Händen aus der Asche des Thowas , des großen Wohnhauses der Kataurengehöfte, geborgen hatte. Bilder von Kinderleibern, unnatürlich verkrümmt und bis zur Unkenntlichkeit verbrannt, die er unter Tränen in ein Grab gebettet hatte. Das Bild von Edina, seiner geliebten Frau, die das jüngste seiner sieben Kinder im Angesicht des Todes schützend an sich gepresst und die er einzig an der goldenen Halskette wieder erkannt hatte. Und Bilder von all den anderen grausam Ermordeten, die damals in dem großen Familienverband auf dem Hof gelebt hatten: seine Mutter, sein Vater, seine beiden Schwestern, deren Männer und Kinder.
Sie alle hatte er mit bloßen Händen auf der Westseite des Thowas begraben, weit weg von den verstümmelten Pferdekadavern, die mit aufgeschlitzten Bäuchen in den Ställen lagen.
Zwei Tage und zwei Nächte hatte er in einem seltsam entrückten Zustand, der keine Trauer zuließ, Gräber ausgehoben, hatte geschuftet wie ein Wahnsinniger, ohne Hunger und Durst zu verspüren oder auf die blutenden Hände zu achten. Erst als die letzte Erde auf den Grabhügel verteilt war, hatte er die Schaufel fortgeworfen und geweint. Trauer und Schmerz waren wie eine Woge über ihn hereingebrochen, doch er hatte sich nicht länger gegen die Wucht der Gefühle gewehrt, die ihn mit sich fortgerissen hatten. Er hatte geweint, getrauert und sich die Lippen blutig gebissen und der Wunsch, jenen, die er geliebt hatte, in den Tod zu folgen, war mit jedem Herzschlag mächtiger geworden.
Die Erinnerung an jene dunkle Zeit trieb dem stämmigen Heermeister selbst nach so langer Zeit noch die Tränen in die Augen. Er hatte nicht vergessen, wie er damals das Kurzschwert aus der Scheide gezogen hatte, bereit, seinem Leben selbst ein Ende zu setzen. Doch der Hass auf die Uzoma und der Wunsch, seine Familie zu rächen, waren stärker gewesen als die verlockende Todessehnsucht.
»Fuginor sei mein Zeuge«, hatte er ausgerufen und die Hand zum Schwur erhoben. »Jeden Einzelnen von euch werde ich rächen. Ich werde es ihnen heimzahlen und nicht eher ruhen, bis euch Genugtuung widerfahren ist.« Dann hatte er sich aufgemacht, diesen Schwur zu erfüllen.
Inzwischen hatte die Klinge, die damals sein Leben hätte beenden sollen, unzählige Uzoma das Leben gekostet. Die Rache war längst erfüllt, doch der Hass wütete noch immer in ihm wie ein unstillbarer Hunger, und Bilder wie das des niedergebrannten Dorfes drohten, ihn schier zur Raserei zu steigern.
»Heermeister?« Keelins halblaute Frage riss Bayard aus den düsteren Gedanken, aber es dauerte noch eine ganze Weile, bis er sich so weit gefangen hatte, dass er antworten konnte. Bayard sprach niemals über seine Vergangenheit. Wer ihn kannte, schätzte seine kühle und überlegte Art, und wenn er auch oft mürrisch und übellaunig wirkte, so war er wegen der unnachgiebigen Härte und Gnadenlosigkeit, die ihn im Kampf gegen die Uzoma zum Berserker werden ließ, längst zu einer lebenden Legende geworden. Wie kein anderer stürzte er sich todesmutig und ohne Rücksicht auf das eigene Leben in die Schlacht, ein glorreiches Vorbild für jeden Krieger.
»Heermeister, die Sonne geht bald auf«, hörte er Keelin sagen. »Ich habe Horus soeben aufgelassen. Er wird die Gegend beobachten, doch die Bilder, die ich bisher von ihm empfange, geben keine Hinweise auf Lagaren.«
»Gut!« Bayard umfasste die Zügel fester. »Wir reiten hinunter!«, befahl er mit gedämpfter Stimme, ließ sein Pferd antraben und gab den anderen das Zeichen, ihm zu folgen. »Seid wachsam und haltet die Augen offen«, mahnte er, während er den Rappen den steinigen Weg hinablenkte. »Es ist gut möglich, dass die Uzoma noch in der Nähe sind.«
»Eine Elbin, wie?« Ubunut, ein breitschultriger Uzoma, trat mit grimmiger Miene auf Ajana zu. Wie die vier
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