Das Erbe der Runen 01 - Die Nebelsängerin
»Verzeihung. Tut mir Leid«, fügte sie hastig hinzu und senkte den Blick.
Keelin runzelte die Stirn. »Du brauchst dich deiner Gefühle nicht zu schämen«, sagte er nachdrücklich und deutete in Richtung des verbrannten Dorfes. »Wer so etwas anrichtet, dem gebührt kein Mitleid.« Er machte eine kurze Pause, musterte Ajana aufmerksam und stellte fest: »Du bist nicht von hier.«
Ajana überlegte, was sie darauf antworten sollte, und entschied sich, über ihre Herkunft zu schweigen. »Ich bin mir nicht sicher«, wich sie der Frage aus und fuhr sich mit den Händen über das Gesicht.
»Wie bist du in die Hände der Uzoma gelangt?«, wollte Keelin wissen.
»Ich weiß es nicht mehr.« Wieder wich Ajana der Antwort aus und hoffte, Keelin würde keine weiteren Fragen stellen. In diesem Augenblick hörte sie Schritte und fühlte einen sanften Händedruck auf der Schulter.
»Es freut mich, dich bei Bewusstsein zu sehen«, hörte sie eine freundliche Stimme sagen.
Ajana sah auf und schaute geradewegs in das rundliche Gesicht einer jungen Frau, die nur wenig älter sein konnte als sie selbst. Ein buntes Tuch hielt die langen, rötlichen Haare zurück, die ihr weit über den Rücken hinab reichten. Die grünen Augen erwiderten ihren Blick voller Wärme und Mitgefühl. Sie trug ein mittelalterlich anmutendes Gewand mit einem schlichten erdfarbenen Rock, der bis auf den Boden hinab reichte. »Ich bin Danae, die Heilerin«, stellte sie sich vor, hockte sich neben Keelin und fragte mit sorgenvoller Miene: »Wie geht es dir?«
»Sie heißt Ajana«, bemerkte Keelin.
»Oh.« Die Heilerin lächelte erfreut. »Hast du noch starke Schmerzen, Ajana?«, erkundigte sie sich.
»Ja, hier.« Ajana deutete auf ihre rechte Brust.
»Die Stichwunde.« Danae nickte mitfühlend. »Du hast großes Glück gehabt. Entweder wollten die Krieger dich nicht wirklich töten, oder der Hieb war nicht stark genug, um die Rippen zu durchstoßen. Du hast eine tiefe Fleischwunde davongetragen, die du sicher noch eine Zeit lang spüren wirst. Aber ich habe sie gesäubert und mit einer heilenden Salbe bestrichen. Sie wird den Schmerz lindern.«
»Vielen Dank!« Ajana lächelte.
»Wie bist du da bloß hineingeraten?«, fragte die Heilerin.
»Sie kann sich nicht erinnern«, warf Keelin ein.
»Das ist kein Wunder bei dem, was hier geschehen ist und was man ihr angetan hat«, sagte Danae verständnisvoll und strich Ajana tröstend über die Wange. »Keine Sorge, du wirst dich sicher bald wieder erinnern.« Sie verstummte und fügte dann mit einem Blick auf Lemrik hinzu: »Obwohl es besser wäre, wenn einiges auf ewig vergessen bliebe.« Dann richtete sie sich auf, strich über ihren Rock und verabschiedete sich mit den Worten: »Nun, wie auch immer. Das Wichtigste ist, dass du lebst. Wenn ich etwas für dich tun kann, rufe nach mir. Die Verbände müssen erst am Abend gewechselt werden.«
»Danke.« Ajana blickte der Heilerin nach, als diese zu einem verwundeten Krieger ging, um dessen Verbände zu erneuern. Dabei wanderte ihre Hand unter dem Umhang unbewusst zu der Stelle, an der sie das Amulett vermutete …
Ajana erstarrte.
Das Amulett! Wo ist das Amulett? Sie überlegte fieberhaft. Und plötzlich erinnerte sie sich: Im Geiste sah sie wieder den Uzoma vor sich stehen. Voller Hass starrte er sie an und griff nach der Kette mit dem Amulett. Mit einem kräftigen Ruck riss er sie ihr vom Hals und schleuderte sie mit den Worten »Das wird dir nun auch nicht mehr helfen« durch das zerborstene Fenster der Hütte. Dann packten sie die anderen Krieger und zerrten sie auf den Tisch …
Das Amulett war fort. Sie hatte es verloren! Panik ergriff sie. Ich muss es suchen. Ich muss es wiederhaben! Ihr Atem ging schnell, und sie zitterte, während sie fieberhaft überlegte, wo es sein mochte.
»Du frierst!« Fürsorglich nahm Keelin seinen Umhang von den Schultern und reichte ihn Ajana, doch sie schüttelte nur den Kopf und streckte ihm die Hand entgegen.
»Kannst du mir aufhelfen?«, bat sie, den Blick fest auf die schwelenden Überreste der Hütte gerichtet.
»Was hast du vor?« Überrascht von Ajanas plötzlicher Unruhe, half Keelin ihr beim Aufstehen. »Du solltest besser noch etwas ruhen«, mahnte er. »Wir brechen bald auf und haben noch einen langen Ritt vor uns, bis wir das Heer …« Er verstummte und schaute Ajana verwundert nach, die ungeachtet der mahnenden Worte auf die niedergebrannte Hütte zuhielt.
… brechen bald auf … haben noch einen
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