Das Erbe der Runen 01 - Die Nebelsängerin
langen Ritt vor uns …
Keelins wohlgemeinte Worte hallten in Ajanas Gedanken nach. Doch statt sie davon zu überzeugen, noch eine Weile zu ruhen und Kraft zu schöpfen, schürten sie in ihr das Gefühl der gebotenen Eile. Etwas sagte ihr, dass das Amulett von großer Bedeutung war. Sie musste es finden, und zwar schnell. Vor den schwelenden Überresten der Hütte blieb sie stehen und blickte sich um. Dann ging sie langsam um die Hütte herum zu der Stelle, zu der hin das kleine Fenster gelegen hatte, und beugte sich, ohne auf die schmerzenden Wunden zu achten, über die Trümmer, die den Boden im Umkreis der Hütte bedeckten.
»Thorns heilige Rösser, was tut sie da?« Bayard, der gerade die letzte Erde auf die frischen Grabhügel geworfen hatte, trat zu Keelin und sah verwundert zu Ajana, die fieberhaft nach etwas zu suchen schien. »Nach dem, was sie durchgemacht hat, erholt sie sich erstaunlich schnell«, bemerkte er zufrieden. »Ich fürchtete schon, ihretwegen die Nacht hier verbringen zu müssen. Du kümmerst dich um sie, bis wir das Heer erreicht haben«, befahl er kurzerhand. »Sobald die Pferde bereit sind, brechen wir auf«
Der Himmel war hell und wolkenlos, und die tief stehende Sonne tauchte das Land am Fuß des Pandarasgebirges in geschmolzenes Gold. Dort, wo der Inrrab aus den Bergen trat und sich in stetigem Strom in den Imlaksee ergoss, störte kein Wind die Ruhe des späten Vormittags. Die Wälder trugen bunt gefärbtes Laub, doch die Wiesen und Weiden rund um den See wirkten so grün und frisch, als weigerte sich der Sommer beharrlich, dem nahenden Herbst zu weichen. Doch schon zog der Dunst vom See nordwärts in Richtung der Berge, und die Luft war erfüllt von dessen feuchten, schweren Düften.
Maylea zügelte ihr Pferd auf einer Anhöhe und ließ den Blick über die beeindruckende Landschaft streifen. Sie sah diese Gegend zum ersten Mal; noch nie war sie den Bergen, deren schroffe Gipfel hoch in den blauen Himmel ragten, so nahe gewesen. Das Land nördlich des Mangipohrs war die Heimat der Katauren. Der sanft hügelige und überaus fruchtbare Landstrich wurde auch der Kornspeicher Nymaths genannt. Im Westen von dichten Wäldern und im Osten von den Fluten des schwarzen Ozeans umschlossen, wurde er im Norden von den Bergen und im Süden von dem breiten Fluss begrenzt.
Gemäßigte Regenfälle und warme Winde, die im Sommer von den Bergen herabströmten, erwiesen sich als günstig für den Ackerbau. Mais, Emmer und andere Feldfrüchte gediehen hier über die Maßen und wurden von den Katauren bei fahrenden Händlern gegen andere Waren eingetauscht oder auf dem großen Markt von Sanforan feilgeboten.
Zur Zeit des Laubfalls waren die Äcker zumeist schon abgeerntet. Nur auf einem erhob sich noch ein dichtes Maisfeld, und am Fuß der Berge zeugte verdorrtes Korn davon, dass man die Ernte nicht mehr hatte einbringen können. Maylea schüttelte traurig den Kopf. Seit der Krieg gegen die Uzoma vor fünf Wintern begonnen hatte, hatten viele Bauern diese Gegend fluchtartig verlassen. Gerade in den vergangenen Silbermonden waren ganze Sippen aus Furcht vor den vernichtenden Angriffen der Lagaren nach Sanforan geflüchtet in der Hoffnung, dort Schutz zu finden.
Maylea war mit dem Krieg und dem Elend der Bevölkerung noch nie wirklich in Berührung gekommen. Sie war mit ihren sieben Schwestern zusammen in den Sumpfgebieten des Mangipohr-Deltas aufgewachsen und hatte sich lange Zeit nicht um das geschert, was im fernen Sanforan vor sich ging. Erst als immer mehr Wunandfrauen dem Dorf den Rücken gekehrt hatten, um dem Heer der Vereinigten Stämme im Kampf gegen die Uzoma beizustehen, war der Krieg auch in ihr Leben getreten. Gemeinsam mit den beiden älteren Schwestern hatte sie gelernt, mit Speer und Feuerpeitsche umzugehen. Obwohl sie damals erst zwölf Winter gezählt hatte, war sie ihren Schwestern schon bald in Geschicklichkeit und Treffsicherheit überlegen gewesen. Doch als ein weiterer Trupp Amazonen für das Heer der Vereinigten Stämme zusammengerufen worden war, hatte ihr die Mutter die Erlaubnis verweigert, mit den älteren Schwestern zu ziehen. Aus Stolz hatte sie die Tränen unterdrückt, als sie von ihren Schwestern Abschied genommen hatte, und geschworen, ihnen schon bald zu folgen.
Inzwischen waren vier Winter vergangen. Vier Winter, in denen sie wie eine Besessene geübt und gegen Schatten und unsichtbare Gegner gekämpft hatte. Vier Winter, in denen sie
Weitere Kostenlose Bücher