Das Erbe der Runen 01 - Die Nebelsängerin
die Hosentasche gesteckt hatte, und das war gut so. Zu deutlich stand ihr noch das Gebaren der Uzoma vor Augen, die das Amulett so sehr in Erregung und Wut versetzt hatte. So etwas wollte sie nicht noch einmal erleben. Sie wusste nicht, welche Bedeutung das Amulett hatte, und konnte sich nicht erklären, warum sich der Uzoma die Hand daran verbrannt hatte. Doch eine innere Stimme flüsterte ihr zu, dass dieses Amulett der Schlüssel zu alledem war, was hier geschah – ein Schlüssel zu Geheimnissen, die sie nicht verstand.
Ajana seufzte und wandte ihre Aufmerksamkeit wieder den Männern zu, die sie befreit hatten. Es waren Männer mit bärtigen, harten Gesichtern und altertümlichen Waffen, die nichts mit der Welt gemein hatten, die sie kannte. Männer mit blutbefleckter Kleidung, die gnadenlos kämpften und töteten und ihr dennoch freundlich und höflich begegneten. Männer, die den Tod eines Kameraden als gegeben hinnahmen, als wäre dies etwas Alltägliches … Krieger!
Je weiter die Sonne dem Horizont entgegeneilte, desto mehr legte sich auch die Anspannung der Reiter. Irgendwann verkündete Bayard mit leisem Spott, dass die Uzoma in der Hütte vermutlich vergebens auf Hilfe gewartet hätten und froh sein könnten, dass die Schwerter ihnen die Qualen eines langsamen Hungertodes erspart hätten.
Im letzten Licht des Tages erreichten sie eine weitere Brücke, die sich an einer schmalen Stelle über den Fluss spannte. Der hölzerne Steg war sehr breit und ruhte auf wuchtigen Pfählen, die dem reißenden Strom wie Felsen in der Brandung trotzten.
Ajana rechnete fest damit, dass sie die Brücke überquerten, doch Bayard, der vorausgeritten war und auf dem sandigen Weg nach Spuren suchte, deutete nach Norden in Richtung der Berge. »Das Heer ist schon durchgezogen«, rief er den anderen zu. »Die Spuren sind noch frisch. Nicht mehr lange, dann haben wir sie eingeholt.« Mit einer Gewandtheit, die Ajana dem stämmigen Krieger nicht zugetraut hätte, schwang er sich wieder in den Sattel, lenkte sein Pferd auf die unbefestigte Straße, die von der Brücke fort führte, und wartete, bis Keelin mit Ajana zu ihm aufschloss. »Nicht mehr lange, und du kannst dich ausruhen«, sagte er an Ajana gewandt. »Nach dem, was du durchgemacht hast, gebührt dir meine aufrichtige Bewunderung. Wenn wir das Heer eingeholt haben, ist es nicht mehr weit bis zum Nachtlager. Ich werde dafür sorgen, dass man dir ein eigenes Zelt zuweist, damit du dich rasch von den Strapazen erholst.«
»Danke!« Ajana versuchte ein Lächeln. Die Freundlichkeit des Heermeisters rührte sie und bestärkte sie in dem Gefühl, dass sie hier nichts zu befürchten hatte.
Bayard schnalzte leise mit der Zunge. Das Pferd trabte an, und er setzte sich wieder an die Spitze der Gruppe.
»Bayard hat ein gutes Herz«, hörte Ajana Keelin sagen. Sie wusste nicht, ob die Worte für sie bestimmt waren oder ob der Falkner mit sich selbst sprach, daher antwortete sie nicht und nickte nur, als er leise hinzufügte: »Aber er trägt es gut unter der Rüstung verborgen.«
Der Nachmittag war fast vergangen. Das Sonnenlicht teilte mit langen Strahlen die träge dahinziehenden Wolken, die sich in der frühen Abenddämmerung am Horizont gebildet hatten, und berührte die tiefblaue Wasserfläche des Imlaksees mit glänzenden Fingern. Doch Maylea hatte keine Augen für die Schönheit dieses Anblicks. Wie die anderen Krieger der Vorhut sammelte sie schon den ganzen Nachmittag lang Steine auf den nahen Feldern und trockenes Holz in den kleinen Hainen und Gehölzen, die in der Nähe des Lagerplatzes wuchsen. Unzählige Feuerstellen mussten errichtet werden, deren Flammen den erschöpften Kriegern des nachfolgenden Heeres in der langen und kühlen Nacht Wärme spenden sollten. Die Arbeit war mühsam und langwierig, doch Maylea beklagte sich nicht. Verglichen mit den Vorbereitungen für das Lager der vergangenen Nacht, das sie in Sturm und Regen hatten errichten müssen, waren die Bedingungen hier weit besser, und die Arbeit ging viel zügiger voran.
Als sie sich mit einem Weidenkorb auf den Weg zu einem nahen Hain machte, wo zwei Onurkrieger gerade dabei waren, einen entwurzelten Pacunussbaum zu zersägen und ihn mit Äxten zu Feuerholz zu verarbeiten, stieg ihr ein deftiger Wohlgeruch in die Nase. Kaum mehr als fünfzig Schritte entfernt bereiteten die Köche in riesigen Kesseln eine stärkende Mahlzeit für die herannahenden Krieger. Der Duft des bescheidenen
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