Das Erbe der Runen 01 - Die Nebelsängerin
eine letzte, traurige Ehre, die man den getöteten Kriegern nicht verweigern wollte. Das Heer selbst würde um die verwüstete Lagerstätte einen weiten Bogen machen, da die Heerführer fürchteten, der Anblick eines derartigen Grauens könne die Kampfmoral der jungen Krieger nachteilig beeinflussen.
»Es wurde alles gesagt«, beendete Gathorion die Zusammenkunft. »Morgen steht uns ein weiterer, nicht minder beschwerlicher Weg bevor.«
»Ja, alles ist gesagt.« Bayard spie auf den Boden. »Aber das hilft uns nicht weiter. Seien wir doch ehrlich. Keiner von uns weiß, wie wir mit ein paar alten Recken und einer Hand voll Halbwüchsiger diesen mörderischen Angriffen etwas entgegensetzen sollen.« Er machte eine verzweifelte Handbewegung, seufzte und fügte etwas leiser hinzu: »Verzeiht, aber was ich in Lemrik gesehen habe …«
»Ich verstehe Eure Gefühle. Uns allen«, Gathorion blickte die anderen an und spürte ihre schweigende Zustimmung, »hat Euer Bericht hart zugesetzt. Auch wir sind ratlos und betroffen. Aber wir sollten stets bedenken, dass noch der stärkste Feind schwach ist gegen den Feind in uns selbst.«
»Möge Asnar Eure Worte erhören«, murmelte Bayard. Er erhob sich, deutete eine Verbeugung an und ging.
»Heermeister Bayard!« Inahwen rief ihn zurück. Bayard wandte sich um und wartete, bis die Elbin zu ihm aufgeschlossen hatte. »Ihr spracht von einer Gefangenen, die Ihr aus den Händen der Uzoma befreit habt. Ich würde sie gern sehen. Wo ist sie?«
»Sie ist bei den Heilerinnen«, erwiderte Bayard. »Die Uzoma haben sie übel zugerichtet.«
»Ich muss mit ihr sprechen«, beharrte Inahwen und zog den wärmenden Umhang zum Schutz gegen die nächtliche Kälte enger um die Schultern. »Seid so freundlich und führt mich zu ihr.«
Während die Heilerinnen Ajana neue Verbände anlegten, machte sich Keelin auf, Abbas zu suchen. Der junge Wunand befand sich vermutlich ganz in der Nähe, irgendwo zwischen den unzähligen Wagen, Pferden und Gerätschaften des Trosses. Doch Keelin merkte schnell, dass die Suche in der Dunkelheit ein sinnloses Unterfangen war; im spärlichen Licht der Abblendlaterne, die er vorsorglich mitgenommen hatte, konnte er kaum etwas erkennen. So kehrte er schließlich zu den Wagen der Heilerinnen zurück, setzte sich auf ein Wasserfass und wartete auf Ajana.
Als diese mit dem Bündel ihrer getragenen Kleidung unter dem Arm die hölzerne Leiter des Planwagens herunterstieg, fand sie Keelin allein vor. Er hatte das Gesicht in den Händen verborgen und sah aus, als schliefe er.
Ajana legte das Bündel neben dem Fass auf den Boden und trat zu ihm. Die neuen Gewänder aus Leder und grobem Gewebe waren für sie ungewohnt und muteten eigentümlich an. Unter dem schlichten, dunklen Wams aus derbem Stoff, das vor der Brust von einem Lederband und in der Hüfte mit einem Gürtel gehalten wurde, trug sie ein helles Untergewand aus gewebtem Linnen, darüber einen weiten Reiseumhang mit Kapuze. Die neue Hose und die ledernen Stiefel hatte Ajana zuerst ablehnen wollen, doch nun war sie dankbar für die warmen Sachen, denn die Nacht war kalt, und sie hatte auf dem langen Ritt zum Heer sehr gefroren.
»Keelin?« Ihr Atem stieg in der kühlen Luft wie ein dünner Nebelschleier auf. Sie überlegte, ob sie sich neben ihn auf das Fass setzen sollte, war dann aber zu schüchtern und blieb stehen.
»Ajana!« Höflich sprang Keelin auf und deutete auf das Fass. »Setz dich doch«, sagte er. »Wie ist es dir ergangen?«
»Die Heilerinnen sind sehr freundlich«, erwiderte Ajana, lehnte das Angebot, sich auf das Fass zu setzen, aber mit einem Wink ab. »Sie haben gesagt, dass die Wunden gut verheilen, und mir auch neue Kleider gegeben.« Sie zupfte an dem bestickten Saum, der unter dem halb geschlossenen Umhang hervorschaute, und murmelte: »Seltsame Kleider.«
»Die übliche Gewandung einer Onur«, bemerkte Keelin. »Es tut mir Leid für dich, dass sich Bayards Versprechen nun nicht erfüllt«, sagte er in ehrlichem Bedauern. »Du bist gewiss müde und erschöpft, aber ein bequemes Lager in einem Zelt können wir dir in dieser Nacht nicht bieten.«
»Was ist geschehen?«
»Es heißt, die Vorhut, die das Nachtlager für dieses Heer errichten sollte, sei von den Uzoma angegriffen worden«, gab Keelin die spärlichen Auskünfte weiter, die er von anderen Kriegern erhalten hatte. »Alle sind umgekommen. Die ganze Ausrüstung ist verloren. Wir haben Befehl, hier zu rasten. Sobald
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