Das Erbe der Runen 01 - Die Nebelsängerin
dem sie erst erwacht war, als die Sonne schon tief über dem westlichen Horizont stand.
»Lasst mich los! Ich bin nicht verletzt. Ich kann sehr wohl marschieren!« Die zornige Stimme einer jungen Frau riss Ajana aus ihren Gedanken.
Im selben Augenblick hielt der Wagen an.
Während die anderen Gefährte des Trosses an ihr vorbeizogen, erkannte Ajana drei schemenhafte Gestalten im auf und ab hüpfenden Lichtschein einer Abblendlaterne.
»Sei nicht so unvernünftig«, hörte sie einen Mann sagen. »Du bist verletzt. Den ganzen Tag schon schleppst du dich mehr schlecht als recht voran. Eine Torheit, dass man es dir überhaupt gestattet hat, in den Reihen der Amazonen zu gehen. Mir fehlt nichts «, ahmte er ihre Stimme nach und fuhr dann ärgerlich fort: »Bei Callugars scharfem Schwert! Nie zuvor ist mir eine so sture Wunandkriegerin untergekommen. Meldet sich freiwillig zum Heer und wirft ihr Leben weg, noch bevor wir den Pass erreichen.«
In den Schatten zeichneten sich erste Umrisse ab, und Ajana erkannte zwei Männer, die eine Frau in der Mitte führten. Die Art, wie sie die Arme der dunkelhäutigen Kriegerin umfassten, ließ vermuten, dass sie nur unfreiwillig mit ihnen ging. Doch die Männer ließen sich von ihrem Widerstand nicht beirren und schleppten die Kriegerin energisch zum Wagen der Heilerinnen.
»Besser du tust, was man dir sagt«, meinte der andere in versöhnlichem Ton. »Sonst brichst du dir womöglich noch das Genick, wenn du wieder im Gehen einschläfst.«
»Ich bin nicht eingeschlafen«, fauchte die Kriegerin erbost, ergriff aber die Leiter und machte sich daran, in den Wagen zu klettern. Ajana wich zur Seite, um ihr Platz zu machen. Im Schein der Laternen erkannte sie, dass das Gesicht der Frau mit einer erdfarbenen Salbe bestrichen war, die Augen, Mund und Nase freiließ. Ihre Haare waren von der Stirn bis zum Hinterkopf zu dünnen, eng anliegenden Zöpfen geflochten, die im Nacken bis auf die Schultern hinabfielen.
Ihr langer, dunkler Umhang verfing sich an einer der Laternen. Ohne Ajana zu beachten, zerrte sie fluchend an dem Gewebe, bis der Wagen sich wieder rumpelnd in Bewegung setzte und der Stoff mit einem reißenden Geräusch nachgab. Dabei verlor sie das Gleichgewicht und stürzte rücklings in den Wagen.
»Emos heilige Schwestern«, ächzte sie und rieb sich das Hinterteil. »Haben die beiden das noch gesehen?« Die Frage galt Ajana.
»Wer?« Ajana, die nicht damit gerechnet hatte, dass die Kriegerin sie ansprechen würde, wusste zunächst nicht, wen sie meinte.
»Na, die beiden Onur.« Die Kriegerin deutete mit einem Kopfnicken zum Wagenende.
»Ach, die«, Ajana verstand. »Nein, die waren schon weg.«
»Gut!« Die Kriegerin setzte sich auf und sah sich um. »Warum bist du hier?«, fragte sie geradeheraus.
»Ich bin verletzt«, entgegnete Ajana.
»Natürlich bist du das. Dies ist der Wagen der Heilerinnen. Gesunde gehen zu Fuß zum Pass.«
»Und was ist mit dir?«, wagte Ajana zu fragen.
»Bis gestern gehörte ich zur Vorhut.« Die Kriegerin sprach in einem Tonfall, als genügten allein diese Worte, um alles zu erklären. Doch als Ajana kein Verständnis zeigte, fügte sie hinzu: »Ich bin die Einzige, die den Angriff der Lagaren überlebt hat. Siehst du«, sagte sie und deutete auf die erdfarbene Salbe in ihrem Gesicht. »Ich hatte großes Glück. Nur ein paar Verbrennungen.«
»Oh.« Ajana fehlten die Worte. Sie wusste nicht, was sie darauf erwidern sollte, und schwieg betroffen.
Auch die Kriegerin sagte nichts mehr. Hin und wieder hörte Ajana sie mürrisch vor sich hin murmeln, und Wortfetzen wie »… hätte noch ewig so weiter marschieren können … denken wohl, eine Frau könne nicht … und … wie ein altes gebrechliches Weib auf dem Wagen sitzen müssen …« drangen an ihr Ohr. Doch sie konnte sich darauf keinen Reim machen, und die Geräusche ringsumher wurden lauter. Der Wagen schaukelte deutlich heftiger als zuvor. Vermutlich hatte man es eilig, zum Tross aufzuschließen, der ein gutes Stück voraus war. So zog sie ihren Umhang fester um die Schultern und richtete den Blick wieder hinaus, wo die Sonne als glühende Scheibe hinter dem Horizont versank.
»Ich heiße Maylea.« Aller Zorn war aus der Stimme der Kriegerin verschwunden, als sie das Wort erneut an Ajana richtete. »Wie ist dein Name?«
»Ajana.«
»Du bist keine Kriegerin.«
»Nein.« Ajana war überrascht. Die junge Kriegerin musste gute Augen haben, wenn sie das in der Dunkelheit erkannte.
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