Das Erbe der Runen 01 - Die Nebelsängerin
können. Doch hier am Pass gab es diese Möglichkeit nicht, und er musste damit rechnen, dass sie dem aufgestauten Hass auf den Bastard-Falkner, wie sie ihn nannten, freien Lauf ließen.
Keelin hatte es in ihren Augen gelesen, als sie die Kammer betreten und ihm wie zufällig die Pritsche in der Mitte überlassen hatten. Er hatte es aus den leise geflüsterten Worten herausgehört, hatte es an den hämischen Seitenblicken gesehen, und er hatte es zu spüren bekommen, als ihm der dicke, rotgesichtige Falkner im Vorbeigehen in die Suppe gespuckt hatte.
Er verschränkte die Arme hinter dem Kopf und starrte zur Decke hinauf, während er auf die grunzenden Atemzüge des Dicken lauschte, der die Pritsche rechts von ihm belegt hatte. In dieser Nacht waren sie zu erschöpft, um etwas gegen ihn zu unternehmen. Doch Keelin wusste, dass ihm bloß eine Gnadenfrist blieb.
In seinem Eifer, Nymath verteidigen zu wollen, hatte er nicht bedacht, dass es noch einen anderen Hass als den auf die Uzoma gab. Er hatte gehofft, das gemeinsame Ziel stünde weit über alten Feindseligkeiten. Die Wirklichkeit aber sah ganz anders aus. Keelin ballte die Fäuste. Diesmal würde er nicht wie damals am Hafen darauf hoffen, dass es glimpflich ausging, wenn er nur geduldig abwartete; diesmal würde er alles daran setzen, den anderen zuvorzukommen.
»Sie können mich hier nicht festhalten!« Aufgebracht schritt Maylea in der Mitte der Kammer auf und ab, die ihr und Ajana von den Heilerinnen zugewiesen worden war. Die flackernde Flamme des kleinen Talglichts, das eine der Heilerinnen auf dem Boden zurückgelassen hatte, warf den Schatten ihres Körpers an die schmucklosen, grob behauenen Felswände, wo er wie ein monströser Geist umherwanderte.
Durch den Türspalt drangen klagende Geräusche in die Kammer, denn draußen in dem großen Saal lagen viele Verletzte. Ajana war froh, nicht dort schlafen zu müssen. Die verbrauchte Luft, das Jammern und Wehklagen der Verwundeten und den durchdringenden Gestank von Blut, Schweiß und Exkrementen der vielen Menschen, die dort auf engem Raum zusammengedrängt waren, hätte sie nur schwer ertragen. So hatte sie es als eine Wohltat empfunden, die kleine Kammer mit der frischen, kühlen Luft zugewiesen zu bekommen.
Nicht aber Maylea. Schon auf dem Weg zu den Heilerinnen hatte sie immer wieder ihr Wohlbefinden beteuert und ihre Verletzungen nachdrücklich verharmlost. Sie verlangte, statt gepflegt zu den Unterkünften der Amazonen gebracht zu werden, doch vergebens.
»Bei Emos zänkischen Kindern«, fluchte Maylea aufgebracht. »Warum kommt denn niemand? Seit sie uns das Essen gebracht haben, hat sich keiner mehr blicken lassen. Das ist keine Heilstätte, das ist ein Kerker!«
»Vermutlich denken sie, wir schlafen«, sagte Ajana. Die Unruhe der jungen Wunand ärgerte sie. Zwar spürte auch sie noch keine Müdigkeit, doch sie genoss das Gefühl, in Sicherheit zu sein. Das unablässige Zetern und Schimpfen der Amazone war für sie nur schwer zu ertragen. Sie wusste, wie sehr sich Maylea danach sehnte, ihre beiden Schwestern endlich wieder zu sehen, vermutete jedoch, dass es ihr vor dem Morgengrauen ohnehin nicht gelänge, sie zu finden.
»Versuch doch ein wenig zu schlafen«, bat sie deshalb und gähnte. »Morgen lassen sie dich bestimmt gehen.«
Als Ajana erwachte, war das Talglicht fast heruntergebrannt. Um sie herum war es ruhig. Ihr Blick fiel auf das unberührte Lager der jungen Wunand. Maylea war fort.
Ajana nahm es hin, ohne sich Gedanken darüber zu machen. Was Maylea tat, ging sie nichts an. Falls sie je wieder dazu im Stande sein sollte, über etwas nachzudenken, hatte sie genug eigene Schwierigkeiten. Doch noch herrschte in ihrem Innern eine dumpfe, bleierne Leere. Obwohl sich Ajana über die eigentümliche Gleichgültigkeit wunderte, war sie doch froh, dass sie sich über all die Dinge, die sie nicht verstand, nicht zwanghaft den Kopf zerbrach. Denn sie wusste, dass damit auch Kummer und Schmerz zurückkehren würden. Ein Blick zum Fenster zeigte ihr, dass es draußen noch dunkel war, und sie beschloss, in der verbleibenden Zeit bis zum Tagesanbruch ein wenig zu ruhen.
Gathorion, Inahwen und die Heermeister hatten sich indes kaum Ruhe gegönnt, denn die Ankunft des Heeres brachte eine Menge Arbeit mit sich. Schließlich kamen sie in dem kleinen Gewölbe zusammen, das die Befehlshaber der Festung für Besprechungen nutzten. Der fensterlose Raum sorgte dafür, das alles, was
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