Das Erbe der Runen 01 - Die Nebelsängerin
ihrer jugendlichen Schönheit verloren. Spurlos schienen die Winter an ihr vorüberzuziehen, und jene, die voller Neid waren, zögerten nicht, sie eine Hexe zu nennen. Man warf ihr vor, sich die ewige Jugend durch den Pakt mit einem Dämon erbuhlt zu haben, den sie Teufel nannten, und schimpften sie eine Dienerin der Finsternis.
Gaelithil spürte die drohende Gefahr und fürchtete um das Leben ihrer Kinder, denn sie wusste um das grausame Schicksal jener, die der Inquisition zum Opfer fielen. So entschloss sie sich, den selbst gewählten Verbannungsort zu verlassen, bevor Lügen und Hass dafür sorgten, dass ihr Leben im Feuer eines Scheiterhaufens endete.
In einer Vollmondnacht nahm sie ihre Tochter bei der Hand und weihte sie in die Geheimnisse ein, über die sie so lange geschwiegen hatte. Sie übergab ihr das Amulett, auf dass sie es bewahre und weiterreiche, damit die Magie der Nebel an ein anderes Leben gebunden werden könne, wenn sie starb. Sie lehrte ihre Tochter die letzte Strophe des Nebellieds, das die Magie erweckte, und vertraute ihr an, dass der Zauber der Runen und die Melodie ihr den Weg nach Nymath weisen würden, wenn die Zeit gekommen wäre. Dann nahm sie ihr das Versprechen ab, dieses Wissen an ihre weiblichen Nachkommen weiterzugeben, und kehrte nach Nymath zurück.
Ja, ja …«, sagte die Alte sinnend und hob den Kopf, um sich von den Erinnerungen zu lösen, die sie nach den vielen Wintern des Schweigens nun um so stärker überwältigt hatten, »… so war das damals.«
»Was geschah mit Gaelithil?«, fragte Ajana, deren Wangen vor Aufregung gerötet waren.
»Der Legende nach starb sie, kurz nachdem sie nach Nymath zurückkehrte.«
»Sie starb nicht nur«, warf Inahwen ein. »Sie wurde grausam ermordet.«
»Ach, und ich dachte, es könnte vielleicht ihre Stimme gewesen sein, die ich hörte, als ich das Amulett zum ersten Mal in den Händen hielt«, sagte Ajana enttäuscht. »Eine wunderschöne Frauenstimme, die ein sehr trauriges Lied sang.«
»Das ist unmöglich.« Bayard schüttelte den Kopf. »Gaelithil ist schon lange tot.«
»In allem, was ihr sagt, steckt ein Funken Wahrheit«, warf die Alte ein. »Gaelithil ist lange tot, das ist richtig«, sie nickte Bayard zu, »ebenso wahr ist es, dass sie ein grauenvolles Ende fand.« Der Blick ihrer trüben Augen begegnete dem der Elbin. »Und obgleich beides wahr ist, schließt es nicht aus, dass auch du, Mädchen«, sie schenkte Ajana ein aufmunterndes Lächeln, »Recht hast, wenn du sagst, dass du ihre Stimme gehört hast. Der Tod hat viele Gesichter, doch nicht immer ist er das Ende allen Lebens, und manche, die des Mysteriums kundig sind, wissen selbst den Tod zu überlisten.«
»Was wollt Ihr damit sagen?«, fragte Bayard misstrauisch.
»Gaelithil kehrte heim in das Land, das sie zwanzig Winter zuvor verlassen hatte«, nahm die Alte den seltsamen Singsang wieder auf, in dem sie die Geschichte erzählt hatte. »Sie kehrte heim in eine Welt, die friedlich schien, doch sie spürte, dass die Späher der dunklen Mächte noch auf sie lauerten. Die Finsternis ist geduldig, und so harrten die Schatten in der Höhle aus, bis …«
»All die Jahre?«, fragte Ajana fassungslos.
»Für Wesen wie diese gibt es keine Zeit, wie du sie kennst«, erklärte die Alte knapp. »Als Gaelithil in der Höhle eintraf, erwachten die Schatten aus ihrem Schlummer. Doch der Elbenpriesterin gelang es wie durch ein Wunder, ihnen ein zweites Mal zu entkommen. Ihr Weg führte sie über die schneebedeckten Gipfel des Pandaras bis auf die andere Seite des Gebirges. Die Schattenwesen waren ihr dicht auf den Fersen, und die Reise über die Grenzen der Welten hinweg hatte sie geschwächt. Sie war allein und verzweifelt, und ihr blieb nur eine Hoffnung – der Semouria!«
»Der Wächter der Seelensteine«, stieß Bayard ehrfürchtig hervor.
»Richtig!« Die Alte hustete erneut. »Es war ein großes Wagnis, doch in ihrer Not wusste Gaelithil keinen anderen Ausweg.«
»Semouria?«, fragte Ajana.
»Ein uraltes Wesen, das nach den Legenden der Uzoma auf der anderen Seite der Berge in einer Höhe hausen soll«, erklärte Bayard. »Man sagt, ein Blick des Semouria genüge, um einem Menschen die Seele zu rauben. Niemand, der ihn je zu Gesicht bekommen hat, ist noch am Leben. Wer ihn erblickt, ist des Todes. Es heißt, dass er sich in einen Felsen verwandeln kann und auf diese Weise seiner Beute auflauert. Der Semouria ernährt sich ausschließlich von Kräften, die der
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