Das Erbe der Runen 03 - Die Schattenweberin
Stammesälteste gesagt hatte. Damit waren auch die letzten Zweifel ausgeräumt.
Bei Sonnenaufgang wollten sich Inahwen, Aileys, Keelin und Ajana nun mit den Booten auf den Weg zum Götterbaum machen, während Kruin, wie er es angekündigt hatte, im Dorf zurückblieb, um über die Pferde zu wachen.
Ajana konnte nicht einschlafen. Sie fühlte sich dem Ziel so nah wie noch nie und dachte immer wieder daran, wie es wohl sein würde, wenn sie wieder nach Hause käme.
Mit geöffneten Augen lag sie auf ihrem Lager nahe dem Feuer und schaute zu den beiden Monden empor, die ihr inzwischen so vertraut waren wie der Trabant ihrer eigenen Welt.
Die Hirschkuh und ihr Kitz, dessen Vater, der goldene Hirsch, symbolisch für die Sonne stand. Der Gedanke führte sie zurück zu jenem friedlichen Abend in der Bergen, als Maylea ihr die Mondlegende der Wunand erzählt hatte … damals, als alles begonnen hatte.
Ajana spürte, wie ihr das Herz schwer wurde. Schmerzlich wurde ihr bewusst, dass sie bei aller Freude über die baldige Heimkehr nun auch Abschied nehmen musste. Nicht nur von Keelin, auch von ihren anderen Freunden und von einer Welt, die sie, obwohl so anders als ihre eigene, längst ins Herz geschlossen hatte.
Hoch über ihr zog ein Vogel dahin. Sein schriller Ruf hallte durch die Nacht.
Sie sah ihm nach, bis er vor dem samtenen Dunkelblau nicht mehr zu erkennen war, dann wandte sie sich wieder dem Himmel zu. Im Norden entdeckte sie fünf strahlende Sterne, die eine senkrechte Linie bildeten. Rechts und links davon leuchteten zwei weitere sehr helle Sterne.
»Das Schwert der Könige!«, hörte sie Keelin neben sich flüstern. »Die Onur halten es für ein gutes Zeichen, es am Vorabend einer Schlacht am Himmel zu sehen. Man sagt, Rionach, der erste König der Onur, habe sein Schwert nach seinem Tod als Zeichen der Macht für alle künftigen Herrschergenerationen am Himmel hinterlassen, um ihnen in dunklen Zeiten Mut und Zuversicht zu schenken.«
»Das ist eine schöne Legende.« Ajana wandte sich Keelin zu und lächelte. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass er noch wach war, und freute sich über seine Gegenwart. »Mut und Zuversicht sind genau das Richtige für mich. Gibt es noch andere Sternbilder in Nymath?«, fragte sie leise.
»Aber ja, viele sogar. Siehst du den roten Stern dort?« Keelin deutete auf einen funkelnden Stern im Osten. »Zusammen mit dem roten Sternennebel ringsumher bildet er Emos Feuerblüte. Vor vielen tausend Wintern, so erzählt die Legende, soll Emo den Gott Fuginor einmal sehr verärgert haben. Um ihn zu besänftigen, schenkte sie ihm die schönste Blüte aus ihrem Garten, doch Fuginor nahm ihre Entschuldigung nicht an. Im Zorn ließ er die Blüte in Flammen aufgehen und verstreute die glühenden Funken über den Himmel.«
»Haben sie sich wieder vertragen?«, fragte Ajana. »Tausende Winter sind eine lange Zeit.«
»O ja, das haben sie.« Keelins Stimme nahm einen weichen Tonfall an. Er streckte die Hand aus und strich mit den Fingern sanft über Ajanas bloßen Unterarm. »Die Legende berichtet von einer feurigen Liebesnacht, die ihre Versöhnung krönte.«
Ajana erbebte. Er war das erste Mal, dass Keelin sie nach dem Streit berührte, und ihr wurde bewusst, wie sehr sie sich danach gesehnt hatte. »Kennst … kennst du noch andere Legenden zu den Sternen?«, fragte sie hastig, um sich ihre Gefühle nicht anmerken zu lassen.
»Thorns heilige Rösser stehen im Westen, aber sie werden von dem Baum dort verdeckt«, erwiderte Keelin, ohne mit den Zärtlichkeiten innezuhalten. »Es ist das schönste und größte Sternbild Nymaths.«
»Ich würde es gern sehen.« Ajana ergriff Keelins Hand und hielt sie fest. »Zeigst du es mir?«
»Gern.« Keelin erhob sich und half ihr auf.
Lautlos schlichen sie an jenen vorbei, die in Decken gehüllt rings um das Feuer schliefen, huschten zwischen den Hütten hindurch und ließen schließlich auch den Baum hinter sich, der ihnen die Sicht auf das Sternbild versperrte.
Dahinter lag eine Wiese.
Ajana sah Keelin von der Seite her an. Ihr war, als hätte es den Streit nie gegeben. Und doch hatte sich etwas verändert. Etwas, das neu war, beängstigend schön und so aufregend, dass es ihr fast den Atem raubte.
Mitten auf der Wiese blieb Keelin stehen, legte den Arm um ihre Schultern und deutete zum Himmel hinauf »Siehst du die vier großen Sterne dort oben?«, fragte er und stutzte, weil sie ihm die Antwort schuldig blieb. »Was ist mit dir?«
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