Das Erbe der Runen 03 - Die Schattenweberin
zurück. »Warte!«, raunte sie ihr zu und hob warnend die Hand. Das Mondlicht fiel auf ihr dunkles Gesicht, und der Ausdruck, den Yenu darin lesen konnte, schürte das Unbehagen in ihr.
»Warum?«, fragte sie beunruhigt.
Die Nuur antwortete nicht sofort. Sie stand einfach nur da, starrte auf die Lichtung und schien auf etwas zu lauschen. Für wenige Herzschläge kehrt Ruhe ein. Die Stille hatte etwas Bedrohliches. Etwas, das Yenu nicht in Worte fassen konnte, lag in der Luft. Etwas, das ihr Angst machte.
Wenn die Auserwählten noch in der Höhle sind, warum höre ich sie nicht? Der Gedanke kam ihr ganz unvermittelt und schnürte ihr die Kehle zu.
Tot.
Die Antwort flammte wie von selbst in ihren Gedanken auf.
Sie sind tot.
Eine eisige Furcht griff nach Yenu, und ein heftiger Schwindel zwang sie dazu, an der Fremden Halt zu suchen. »Was ist geschehen?«, presste sie mit heiserer Stimme hervor. »Was werde ich in der Höhle vorfinden?«
»Der Anblick wird dir nicht gefallen«, erwiderte die Nuur knapp. »Bist du sicher, dass du es sehen willst?«
»Sind … sind sie tot?« Yenus Stimme bebte. Sag, dass es nicht wahr ist, flehte sie in Gedanken. Sag, dass ich mich täusche. Sag, dass …
Die Nuur nickte stumm.
»Nein!« Yenus Aufschrei gellte durch die Nacht. Der schrille Laut schreckte einige Vögel aus dem Schlaf, die sich jäh von ihren Ruheplätzen in den Wipfeln erhoben und kreischend davonflogen. Fassungslos starrte sie die Nuur an. »Das ist nicht wahr!« Entsetzten und Unglauben schwangen in ihrer Stimme mit. »Sag, dass es nicht wahr ist.«
Doch die Amazone schüttelte nur den Kopf. »Ich kam zu spät«, sagte sie mitfühlend. »Ich konnte nichts mehr für sie tun. Sie waren schon …«
Yenu wartete nicht, bis sie den Satz vollendet hatte. Entschlossen löste sie sich von der Amazone und rannte über die Lichtung auf die Höhle zu.
Sie können nicht tot sein! Sie können nicht tot sein! Die Worte begleiteten ihre Schritte, als genüge es, sie ständig zu wiederholen, um aus dem verzweifelten Wunsch Wirklichkeit werden zu lassen. Das darf nicht sein. Die Priesterinnen haben mir versprochen, dass ihnen nichts geschieht! Sie haben es mir versprochen!
Im Eingang der Höhle war es so finster, dass man die Hand nicht vor Augen sehen konnte. Ein schwerer aromatischer Duft lag in der Luft, der starke Erinnerungen in Yenu weckte. Abrupt hielt sie inne. Es waren Erinnerungen an eine schöne und unbeschwerte Zeit. Für Bruchteile eines Augenblicks fühlte sie sich zurückversetzt in das Erlebnis der ersten gemeinsamen Nacht, die sie mit Wilnu in ihrer Hütte verbracht hatte, jener wunderbaren ersten Nacht, die sie als seine Gefährtin an seiner Seite verbracht hatte.
Der Geruch stammte von einem seltenen und sehr kostbaren Öl, dessen Duft Liebenden eine unvergessliche Nacht bereitete.
An diesem Ort erschien er Yenu wie ein entsetzlicher Frevel. Wie konnten die Männer es wagen, diesen heiligsten aller Düfte mit den Katzenfrauen zu teilen? Wie konnten sie …
»Du solltest da nicht hineingehen.« Wie aus dem Nichts tauchte die Nuur mit einer Fackel in der Hand neben ihr auf.
»Ich gehe.« Yenu streckte die Hand nach der Fackel aus. »Allein!«
»Nein!« Die Nuur schüttelte den Kopf. »Ich komme mit dir.« Entschlossen ging sie an Yenu vorbei und bedeutete ihr mit einem Handzeichen, ihr in die Höhle zu folgen.
Der Eingang war ein schmaler Tunnel, in dem die beiden Frauen kaum aufrecht gehen konnten. Mit jedem Schritt, den sie weiter in das Dunkel eindrangen, nahm der betörende Duft zu, vermischte sich jedoch gleichzeitig auch mit anderen Gerüchen. Da gab es den Geruch von Moder, der von den feuchten Felswänden herrührte, einen Hauch von erkalteter Asche und …
Yenu erschauerte, als der metallische Geruch von Blut ihre Nase streifte. Das Gefühl nahenden Unheils wurde schier unerträglich. Alles in ihr schrie danach, umzukehren und diesen Ort zu verlassen. Doch als sie nach vorn schaute, sah sie, dass die Amazone die Höhle bereits betreten hatte. Yenu zögerte. Dann nahm sie all ihren Mut zusammen und folgte ihr.
***
Nur zögernd wich die Nacht der Dämmerung und entließ die Welt aus dem Dunkel, das sie gesponnen hatte. Das einheitliche Schwarz wurde langsam zu einem schweren Grau, in dem sich immer mehr Konturen abzeichneten. Ein einsamer Vogel schmetterte sein Lied so inbrünstig in die morgendliche Stille, als könne er die ersehnten Sonnenstrahlen damit heraufbeschwören,
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