Das Erbe der Runen 03 - Die Schattenweberin
wie eine Haselnuss, hatte aber eine braune, schrumpelige Hülle. Vor allem aber hatte er keinerlei Ähnlichkeit mit der Knospe, die Inahwen ihr gezeigt hatte.
Enttäuscht brach Ajana die Hülle auf – und erstarrte. Unter der dunklen Hülle verborgen lag ein verdorrtes junges Blatt!
… ein verdorrtes junges Blatt!
Endlose Augenblicke verstrichen. Augenblicke, in denen Ajana zu ermessen versuchte, was diese Entdeckung für sie bedeutete. Inahwen hatte nicht gelogen. Der Ulvars hatte tatsächlich ausgetrieben. Doch jetzt …
»… ist er tot!«
Ajana zuckte zusammen. Die verdorrte Knospe entglitt ihren Fingern und fiel zu Boden. Fast wäre auch sie vom Baum gefallen, doch ein beherzter Griff nach einem Ast konnte dies gerade noch verhindern.
Ihre Stimme bebte, als sie auf die verhüllte Gestalt herabblickte, die wie aus dem Nichts am Fuß des Ulvars aufgetaucht war, und fragte: »Wer seid Ihr?«
***
In der einsamen Vergessenheit des grauen Zwielichts, das den Kerker des Bluttempels erfüllte, regte sich etwas. Ein ersticktes Wimmern glitt durch den Raum und brach sich an den feuchten Wänden aus Felsgestein.
Für eine Weile kehrte Ruhe ein, dann war ein scharrendes Geräusch zu hören. Eine pelzige Gestalt lag zusammengekauert auf dem nackten Boden. Ihre Bewegungen waren schwerfällig und steif und wurden zudem durch die Fesseln behindert, mit denen man ihr die Hände und Füße hinter dem Rücken zusammengebunden hatte. Doch sie war eine Kämpferin und würde sich nicht widerstandslos in ihr Schicksal fügen. Der Knebel, der ihr die Luft zum Atmen nahm, war fast zerbissen. Nicht mehr lange, dann würde auch der Rest Opfer ihrer spitzen Zähne werden. Als schließlich die letzte Schicht des Gewebes ihren Anstrengungen nachgab, spie sie die Überreste mit einem zornigen Fauchen auf den Boden.
Der kleine Sieg spornte sie an, und sie arbeitete schneller. Obwohl ihre Verletzungen sie peinigten, rieb sie den pelzigen Schädel immer wieder über den rauen Boden, um das Tuch loszuwerden, mit dem man ihr die Augen verbunden hatte.
Und wieder hatte sie Erfolg. Nach schier endlosen Versuchen gab es endlich ihre gelben geschlitzten Augen frei. Mit einem einzigen Blick erfasste sie den Raum, erspürte mit den feinen Sinnen die Wärme großer und kleiner Lebewesen, die sich irgendwo hinter den dicken Mauern befanden, und erreichte im Geiste schließlich die sonnendurchwirkte Oberfläche.
Wie im Traum sah sie den Tempel und die Bäume ringsumher vor ihrem geistigen Auge auftauchen und auch die Vögel, die sich im schützenden grünen Dach versteckten.
Vögel! Mit der Schnelligkeit einer jagenden Katze packte sie das Bewusstsein eines bunt gefiederten Tagaras und unterwarf ihn ihrem Willen, während sie ihm hastig die Bilder eingab, die sie im Geiste gesehen hatte und ihm befahl, Hilfe zu holen.
Dann ließ sie ihn frei. Das Bild des davonfliegenden Vogels verblasste, während ihr Geist in rasantem Fall in ihren Körper zurückkehrte und sie erschöpft von der ungeheuerlichen Anstrengung erneut in eine tiefe Ohnmacht sank.
»Gebt Acht! Sie hat sich das Tuch von den Augen gerissen!« Der verzerrte Warnruf eines Sterblichen drang nur bruchstückhaft in ihr Bewusstsein. Sie wollte die Augen öffnen, doch der Geruch nach Rauch und die ungeheure Hitze einer Fackel, die vor ihrem Gesicht loderte und ihr das Fell versengte, hielten sie davon ab.
Sie spürte, wie sie angehoben wurde, und hörte den Sterblichen rufen: »Na los! Schafft sie nach oben.« Dann hüllte ein schmerzhafter Schlag auf den Hinterkopf ihr Bewusstsein erneut in Dunkelheit.
***
Yenu hatte keine Tränen mehr.
Schluchzend hielt sie Wilnus leblosen Körper in den Armen, unfähig zu begreifen, dass die Priesterin sie schamlos ausgenutzt und belogen hatte. »Bei Shuras scharfen Krallen, das habe ich nicht gewollt!« Unablässig strichen ihre Finger zärtlich über das kühle, bleiche Gesicht des jungen Hedero, während sie die Worte wie die Litanei einer Irrsinnigen wiederholte. »Das habe ich nicht gewollt!«
»Die Sonne geht bald auf.« Etwas Drängendes schwang in den Worten der Amazone mit. Die Nuur hatte eine Weile respektvoll vor der Höhle gewartet, um Yenu Zeit zum Abschiednehmen zu geben, nun kam sie zurück. Sie schien es eilig zu haben. »Du musst in dein Dorf zurückkehren und den anderen von dem Vorfall berichten«, sagte sie knapp. »Die drei haben ein Recht auf ein würdiges Begräbnis.«
Yenu antwortete
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