Das Erbe der Runen 03 - Die Schattenweberin
der Nacht und vom Beginn der Dämmerung kündete, aber es war immer noch stockfinster.
Yenu hielt den Atem an und lauschte. In ihrem Nacken kribbelte es. Sie konnte nichts sehen und nichts hören, und doch wusste sie, dass sie nicht mehr allein war. Was immer sie geweckt hatte, war ganz in der Nähe.
Kamen sie schon, sie zu holen? Aber warum so heimlich?
Vor ihr in der Dunkelheit raschelte es. Das Holz der Treppe, die zur Tür hinaufführte, knarrte leise.
Yenus Blut pulsierte ebenso schnell durch ihren Körper wie ihre Gedanken. Wer immer sich näherte, würde in ihr eine leichte Beute finden. In ihrer Furcht presste sie sich noch fester gegen das harte Holz der Hüttenwand.
Dort, wo sie den Eingang vermutete, war ein leises Scharren zu hören, dann wurde die Tür einen Spalt weit geöffnet. Fahles Mondlicht sickerte hindurch und gab der allgegenwärtigen Schwärze im Raum die Umrisse zurück.
»Yenu?«, fragte eine helle Stimme, und eine schlanke, zierliche Gestalt huschte in den Raum.
»Miya!« Yenu erkannte die Stimme sofort. Miya war einen halben Kopf kleiner und zwei Winter jünger als sie und ihre beste Freundin. Einen Winter zuvor hatte sie ihren Gefährten an eine Felis verloren. Sie ertrug den Kummer in tapferem Schweigen und klagte nie, aber Yenu hatte sehr wohl bemerkt, dass ihre Lebensfreude immer weiter schwand. Miyas Schicksal war es auch, das Yenu vor Augen geführt hatte, was es bedeutete, die Gefährtin eines Auserwählten zu sein. Hätte Miya nicht so gelitten, hätte sie vermutlich nie aufbegehrt und den Verrat nicht begangen.
»Heiliges Blut, was tust du hier?«, zischte sie. »Du bringst dich in große Gefahr! Du …«
»Sei still!« Miyas Stimme war ungewohnt scharf. Mit raschen, lautlosen Schritten durchquerte sie den Raum, kniete neben Yenu nieder und durchtrennte deren Fesseln mit einem raschen Schnitt.
»Miya, du bist von Sinnen!« Yenu rieb sich die schmerzenden Handgelenke, während sie fühlte, wie das Blut prickelnd in ihre Fingerspitzen vordrang. »Du kannst doch nicht …«
»Komm mit!« Miya drehte sich um und huschte zur Tür. »Schnell.« Yenu war zu verwirrt, um nachzudenken. Sie glaubte zu träumen. Niemals hätte sie es für möglich gehalten, dass die Freiheit noch einmal zu ihr zurückkehren könnte. Ebenso absurd wie unglaublich erschien es ihr, dass ausgerechnet Miya, die schüchterne und stille, niemals widersprechende Miya sie aus ihrem Gefängnis rettete.
Doch der Wille zu überleben war stärker als jeder Zweifel. Was hatte sie schon zu verlieren? Lautlos folgte sie Miya aus dem Raum und glitt die Treppe hinunter. Den reglosen Körper des Kriegers, der vor der Hütte Wache gehalten hatte, nahm sie nur am Rande wahr. Es galt, Miya nicht aus den Augen zu verlieren. Mit steifen und ungelenken Bewegungen folgte sie ihrer Freundin aus dem Dorf hinaus in den Dschungel. Ohne auf den Weg zu achten floh sie durch das Unterholz, bog Äste und Zweige zur Seite, stolperte über Baumwurzeln und Schlingpflanzen und verdrängte den beißenden Schmerz in ihrem Körper, der schon bald gegen die Anstrengung rebellierte.
Der feuchte Waldboden flog unter ihren bloßen Füßen dahin, während sie Miya folgte, die immer tiefer in das Dickicht vordrang. Es hatte ganz den Anschein, als kenne ihre Freundin den Weg, aber jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt für Fragen.
Irgendwann, nach einer Zeit, die Yenu nicht ermessen konnte, hielt Miya schließlich inne. Um Atem ringend, lehnten sich die beiden jungen Frauen mit dem Rücken an einen Baumstamm, hielten die Augen geschlossen und warteten darauf, dass sich ihr keuchender Atem beruhigte.
Endlose Augenblicke verstrichen, ehe Yenu es wagte, die Augen zu öffnen und jene Frage zu stellen, die ihr die ganze Zeit schon auf der Zunge brannte: »Warum hast du das getan?«
»Weil du meine Freundin bist«, erwiderte Miya.
»Ich hatte viele Freundinnen«, entgegnete Yenu, der die Antwort nicht genügte.
»Stimmt, du hattest welche.« Miya blieb ernst. »Jetzt hast du nur noch mich.«
»Aber das ist doch noch lange kein Grund, dein Leben für mich zu wagen!« Verwirrung schwang in Yenus Stimme mit. Bei aller Freude über die gelungene Flucht schämte sie sich dafür, dass sie ihre Freundin in diese Angelegenheit hineingezogen hatte. »Ist dir eigentlich klar, was du getan hast?«, fragte sie mit einem Anflug von Wut. »Du hast getötet. Du kannst nie mehr zurück. Indem du mir geholfen hast, hast du dein ganzes Leben zerstört.
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