Das Erbe der Runen 03 - Die Schattenweberin
erwiderte nichts. Er hatte den Mann noch nie gesehen, und doch kam er ihm bekannt vor. Der lange dunkle Mantel, der bereitkrempige Hut, das graue Haar, die durchsichtige Flasche in der Hand … Das konnte nur der Mann sein, von dem Ajana ihm schon mehrfach erzählt hatte. Der Mann in der schwarzen Gewandung, dem sie erstmals in ihrer Heimat begegnet war und den sie auch am Pass einmal zu sehen geglaubt hatte. Ein Mann, dessen Auftreten ihr stets unheimlich gewesen war und den sie trotzdem immer einen Freund genannt hatte – den Wanderer.
»Ja, so nennt man mich bisweilen!« Wieder schien der Mann seine Gedanken gelesen zu haben. Er gab ein schnarrendes Geräusch von sich, das ein Lachen sein mochte, setzte die Flasche an die Lippen und nahm einen großen Schluck. »Es stimmt, Ajana nennt mich einen Freund. Und auch du solltest wissen, dass ich nicht dein Feind bin«, sagte er und wischte sich mit dem Handrücken den Mund ab.
»Sie nennt Euch einen Freund. Aber seid Ihr das wirklich?« Keelin rümpfte die Nase, als ihm die scharfen Ausdünstungen von Ecolu entgegenschlugen, machte aber keine Anstalten, das Kurzschwert einzustecken. Nach allem, was er von Ajana wusste, war er sich nicht sicher, ob die Waffe dem Wanderer etwas anhaben konnte; aber sie gab ihm ein Gefühl von Sicherheit, auf das er nicht verzichten wollte.
»Das zu beurteilen ist nicht meine Aufgabe.« Der Wanderer machte eine wegwerfende Handbewegung. »Sie nennt schließlich auch dich einen Freund.« Er machte eine bedeutungsvolle Pause und sagte dann: »Wie auch immer. Jedenfalls solltest du dich beeilen, wenn du sie noch einholen willst.«
»Ihr … Ihr wisst, wo sie ist?« Keelin horchte auf. Für einen Augenblick kam ihm der Gedanke, dass der Wanderer etwas mit Ajanas Verschwinden zu tun haben könnte. Doch er schluckte die bissige Bemerkung, die ihm auf der Zunge lag, herunter und fragte nur: »Wo ist sie?«
»Die Frage ist nicht, wo sie ist, sondern wohin sie will«, erwiderte der Wanderer gedehnt.
»Also gut, dann erzählt mir, wo ich sie finden kann.« Nur mühsam gelang es Keelin, seine Ungeduld zu mäßigen.
»Wenn du schnell bist, am Pass. Wenn nicht …«, der Wanderer hielt inne und nahm einen weiteren Schluck.
»Wo dann?«, fragte Keelin. Die Ungeduld verlieh seiner Stimme eine ungewohnte Schärfe, aber der Wanderer schien sich nicht daran zu stören.
»In Andaurien«, antwortete er so trocken, als sei Ajana nur mal eben zum Hafen hinuntergegangen.
»In Andaurien?« Fassungslos senkte Keelin das Kurzschwert. »Gilians heilige Feder, was will sie dort?«
»Ich wollte dir helfen, sie zu finden. Ihre Beweggründe muss sie dir schon selbst erklären.« Der Wanderer berührte mit zwei Fingern die Krempe seines Hutes und neigte dabei leicht das Haupt. »Wie ich schon sagte, du findest sie am Pass – wenn du schnell bist.« Mit diesen Worten drehte er sich um und verschmolz wieder mit den Schatten.
»Wartet!« Keelin eilte ihm nach, aber als er die Hauswand erreichte, war der Wanderer verschwunden. Nur der scharfe Geruch des Ecolus deutete darauf hin, dass er vor kurzem dort gewesen war.
»Kommt zurück!« Noch während Keelin die Worte aussprach, wusste er, dass sie vergebens waren. Es war genau so, wie Ajana es ihm geschildert hatte: Der Wanderer war wie aus dem Nichts aufgetaucht und auf ebenso geheimnisvolle Weise wieder verschwunden. Er war fort und würde nicht zurückkehren.
Seine Worte hingegen hatten bei Keelin tiefen Eindruck hinterlassen. Nicht einen Augenblick zweifelte er an der Richtigkeit dessen, was der Wanderer ihm offenbart hatte: Ajana war auf dem Weg zum Pass, weil sie von dort nach Andaurien aufbrechen wollte.
Welch ein Irrsinn! Keelin fluchte laut. Einen Augenblick noch zögerte er, dann fasste er einen Entschluss. Mit großen Schritten eilte er zum Stall, sattelte ein Pferd und machte sich auf den Weg zum Falkenhaus. Horus würde es nicht schätzen, mitten in der Nacht geweckt zu werden, doch diesmal konnte er auf die Befindlichkeiten seines Gefährten keine Rücksicht nehmen. Ajana hatte einen großen Vorsprung, und die Zeit drängte.
Für einen Augenblick überlegte er, ob er Inahwen eine Nachricht zukommen lassen musste, entschied dann aber, dass er diese auch noch vom Pass aus würde schicken können. Die Elbin würde am folgenden Tag ohnehin nicht in Sanforan weilen, da sie mit Kruin und einem weiteren Ratsmitglied nach Sean Ferll reiten wollte.
Kurze Zeit später war alles bereit. Keelin hatte ein
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