Das Erbe der Runen 03 - Die Schattenweberin
beiden Nuur einen Platz am Boden im hinteren Teil des Raums. Beide fühlten sich unsicher, vertrauten jedoch darauf, in der Masse der Priesterinnen nicht aufzufallen.
»Ich hätte nicht gedacht, dass so viele ihrem Ruf gefolgt sind«, raunte Oxana ihrer Freundin zu. Erst allmählich hatten die beiden begriffen, dass die Priesterinnen nicht nur als Gäste geladen waren. Jede von ihnen sollte einen Beitrag zum Fest leisten. Welcher Art dieser war, hatten sie sehr bald erkannt. Hunderte Sumpfhühner und andere Tiere ließen keine Zweifel daran, dass jede Hand, die ein Opfermesser zu führen im Stande war, für das blutige Fest gebraucht wurde.
Suara wollte etwas erwidern, als der Tempelkrieger, der am Eingang Wache hielt, einen kupfernen Gong schlug.
Augenblicklich wurde es still. Nur das Rascheln der Gewänder war zu hören, als alle sich demütig verneigten und mit gesenkten Häuptern verharrten, bis die Hohepriesterin ihnen gestattete aufzusehen. Auch Suara verneigte sich, aber nur so weit, dass sie verstohlen einen Blick auf jene werfen konnte, die den Willen des Blutgottes in Andaurien so gnadenlos durchsetzte.
Vhara war wunderschön und hatte ein ebenmäßiges, jugendliches Gesicht. Sie wirkte viel jünger, als Suara sich eine Hohepriesterin vorgestellt hatte, und war überaus prunkvoll gekleidet. Ihr langes Gewand aus fließendem grünem Gewebe war mit goldenen Fäden durchwirkt, die sich zu kunstvollen Mustern vereinten und auf dem bodenlangen Umhang ihre Fortsetzung fanden. Auch der Kopfputz als Zeichen ihrer Macht war mit dem kostbaren Metall besetzt und zudem mit unzähligen prächtigen Tagarafedern geschmückt.
Ihr folgten zwei Novizinnen mit Federfächern, die ihr in dem stickigen Raum Luft zuwedelten und lästige Insekten fern hielten. Hoheitsvoll stieg Vhara auf das Podest, wartete jedoch, bis die Novizinnen neben ihr Aufstellung genommen hatten, ehe sie das Wort an die versammelten Priesterinnen richtete.
»Töchter des Einen«, sprach sie die traditionelle Begrüßung der Priesterinnen. »Im Namen des Meisters, der unser aller Schicksal leitet, sehe ich mit Wohlwollen, dass ihr den Weg hierher gefunden habt, ihn zu ehren und seine Macht zu stärken.« Sie gab dem Krieger ein Zeichen, erneut den Gong zu schlagen und zu verkünden, dass alle aufsehen konnten.
»Ich hätte nie gedacht, dass sie so jung ist«, flüsterte Oxana Suara zu.
»Eine Jugend, die sie sich mit dem Blut Unschuldiger erkauft.« Suaras Hand wanderte wie von selbst zum Opfermesser. Niemals zuvor war sie einer Hohepriesterin und damit der ersehnten Rache so nahe gewesen. Niemals zuvor hatte sie das Feuer des Hasses so sehr gespürt wie in diesem Augenblick.
»Bleib ruhig.«
Sie spürte Oxanas Hand auf ihrem Arm, erwiderte den besorgten Blick der Gefährtin und nickte ihr zu. Oxana hatte Recht: Hier war nicht der richtige Ort, um den Tod ihrer Mutter zu rächen. Geduld war die Tugend des erfolgreichen Jägers. Ihre Zeit würde kommen. Bald!
Ein gellender Aufschrei riss sie aus ihren Gedanken.
Vor dem Podest war eine der jungen Priesterinnen aufgesprungen. In ihrer Hand blitzte ein Messer.
»Im Namen Callugars!« Die Worte hallten wie ein Schlachtruf durch den Raum. Ehe auch nur einer reagieren konnte, stürzte sie sich auf die Hohepriesterin. Schreie und Warnrufe wurden laut. Unter den Priesterinnen im Raum brach Panik aus. Die Fächer tragenden Novizinnen ergriffen kreischend die Flucht. Vhara hingegen blieb so unerschütterlich stehen, dass es geradezu unheimlich war.
Nach nur wenigen Schritten stand die Attentäterin ihr Auge in Auge gegenüber, das Opfermesser zum tödlichen Stich erhoben. Da sirrte etwas Blitzendes pfeilschnell durch die Luft und bohrte sich in den Hals der falschen Priesterin.
Suara sah, wie sie mitten in der Bewegung erstarrte. Einen Herzschlag lang stand sie mit schreckgeweiteten Augen da, dann knickten ihre Beine ein, und sie sackte kraftlos zu Boden. Das Messer entglitt ihren Händen, während sie zu Füßen der Hohepriesterin zusammensank und reglos liegen blieb.
Mit einem Schlag war es still. Es schien, als halte selbst der Dschungel den Atem an. Die Augen der versammelten Priesterinnen waren starr auf Vhara gerichtet, die selbst jetzt noch so beherrscht wirkte, als sei nichts geschehen. Zu ihren Füßen lag die tote Priesterin mit unnatürlich verrenkten Gliedern, die Augen blicklos ins Leere gerichtet, die dunklen Haare in einer Lache aus frischem Blut, das aus einer klaffenden Wunde am Hals
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