Das Erbe der Runen 2 - Die Feuerpriesterin
den herkömmlichen Sinnen verborgen blieb.
Es war ein Zauber, so alt wie die Legenden ihres Volkes, doch er hatte nichts von seiner Wirksamkeit eingebüßt. Tief in sich spürte Ylva, wie die Schatten der Finsternis langsam zurückwichen und ehrfürchtig außerhalb des Bannkreises verharrten, den der Gesang um sie und das Feuer geschaffen hatte.
Als die Seherin spürte, dass ihr der Zauber gelungen war, verstummte sie. Für wenige Augenblicke waren nur das Knistern der Nnyrri-Mar-Blätter in der Glut und das sanfte Geräusch des Windes zu hören. Es hatte fast den Anschein, als sei die Seherin bereits in eine tiefe Trance geglitten, doch für das, was sie vorhatte, bedurfte es mehr als nur der Wirkung des Krauts.
Zögernd, fast so, als fürchte sie sich vor dem, was sie zu tun plante, griff Ylva in den Korb, nahm die Pilzfasern heraus und warf sie mit sicherem Schwung in das Feuer. Das feuchte Geflecht gab zischende Laute von sich, als es die glühende Asche berührte. Die Feuchtigkeit der frischen Pilzfasern verdampfte unter der Hitze des Feuers sogleich zu einer gelblichen Wolke, die die Seherin einhüllte.
Ylva wusste, dass die Dämpfe giftig waren. Unvorbereitet bedeuteten sie für einen Menschen unweigerlich den Tod, doch das Nnyrri-Mar verlieh ihr einen gewissen Schutz, sodass sie den Versuch wagen konnte. Nur einmal noch zögerte sie, dann atmete sie tief durch.
Die Wirkung setzte augenblicklich ein. Ylva hatte das Gefühl zu schweben und spürte, wie ihr Geist den Körper verließ. Mit rasender Geschwindigkeit schwebte er hinauf zu den Gipfeln der Berge, durch die Wolken hindurch, weiter bis zu den Sternen und darüber hinaus, wo er sich schließlich in der Unendlichkeit verlor. Hier gab es nichts als Schwärze. Eine tiefe, samtene Schwärze voller Frieden und Wohlgefühl, in der man sich nur allzu leicht verlor.
Gib Acht! Ein letzter Rest von Ylvas Selbst hielt die Verbindung zu ihrem Körper aufrecht, und so konnte sie in Gedanken jene Bitte in Worte fassen, nach deren Erfüllung es sie so sehr verlangte.
O Große Mutter, lass mich die Vision noch einmal sehen!, flehte sie – und sie wurde erhört.
Plötzlich war die Dunkelheit voller Leben. Wirre Bilder, die zunächst keinen Sinn ergaben, stürmten in schneller Folge auf Ylva ein. Da standen die Fremden dicht gedrängt am Rand einer feurigen Schlucht. Ein Mann mit blauem Kopfputz hielt die Erbin Gaelithils in den Armen. Sie wehrte sich, schrie und weinte. Aber er ließ nicht von ihr ab. Dann sah sie Bayard, die Asnarklinge zum tödlichen Hieb erhoben, während ein Uzoma mit schreckgeweiteten Augen vor ihm auf dem Boden lag. Sie sah Inahwen wie fliehend durch eine dunkle Höhle laufen und hörte, wie Keelin nach jemandem rief, ohne eine Antwort zu erhalten.
Das Bild eines brennenden Baumes, begleitet von einem verzweifelten Aufschrei, zog ebenso undeutlich an ihr vorbei wie das Bild einer Frau mit flammenden Haaren, die über feuriger Glut schwebte. Sie sah die Festung am Pass über dem Pandarasgebirge in Flammen stehen und die schwelenden Überreste einer Wüstenstadt, die sie nie zuvor gesehen hatte. Das letzte Bild zeigte wieder die Fremden Seite an Seite in einer Höhle aus Feuer und schwarzem Stein; sie hielten die Waffen gezückt in den Händen und starrten angespannt auf etwas, das Ylva verborgen blieb. Die Seherin spürte, dass sich ihr noch mehr Bilder offenbaren wollten, doch ihre Kraft reichte nicht mehr aus, um sie zu empfangen. Die Wirkung des giftigen Rauchs währte nur kurz und schwand so rasch, wie sie gekommen war.
Der Absturz verlief noch schneller als der Aufstieg. Wie in freiem Fall stürzte Ylvas Geist aus der Dunkelheit hinab, vorbei an Sternen und Wolken, an Gipfeln und Baumwipfeln, und schoss schließlich mit der Wucht eines Donnerschlags zurück in ihren Körper. Sie fühlte einen stechenden Schmerz im Kopf und warf sich unwillkürlich zur Seite, um nicht ins Feuer zu stürzen. Dann sah sie nichts mehr.
Mit bangem Herzen beobachtete Faizah, wie sich Inahwen an den Seilen der Hängebrücke festklammerte und gefasst in die Tiefe blickte. Nachdem der Katauren-Heermeister seinen Groll überwunden und sich über das unsichere Geflecht auf die andere Seite gehangelt hatte, waren ihm die anderen mit vorsichtigen Bewegungen über das schwankende Tauwerk gefolgt, stets darauf bedacht, den Blick nicht in die Tiefe zu richten.
Sobald einer die gegenüberliegende Seite der Schlucht erreicht hatte, war der Nächste
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