Das Erbe der Runen 2 - Die Feuerpriesterin
Höhe, an denen man sich beim Überqueren der Schlucht entlanghangeln konnte. Auf dem langen Weg über den Abgrund waren die Seile untereinander nur mit einigen wenigen Stricken verbunden.
Der Zustand des Bauwerks erschien Ajana mehr als Besorgnis erregend. An vielen Stellen hatten sich lange Fasern aus dem Geflecht gelöst, die nun locker herunterhingen und sich wie ein wogender Vorhang in dem leichten Luftzug bewegten, der die Klamm hinaufstrich, während auf der Schattenseite des Bodenseils ein dicker Teppich aus dunkelgrünem Moos davon zeugte, dass die Brücke schon viele Jahre hier hängen musste. Diesseits der Klamm war das schwankende Bauwerk mit rostigen Eisenringen in einem überhängenden Stück Felswand verankert. Auf der gegenüberliegenden Seite gab es diese Möglichkeit nicht. Dort waren zwei der drei V-förmig angeordneten Hauptseile an den dicken Ästen eines mächtigen Purkabaums befestigt.
»Niemals!«, hörte Ajana Bayard in ihre Betrachtungen hinein sagen. »Und wenn ich drei Nächte unterwegs bin, um diesen verfluchten Umweg zu beschreiten. Das da betrete ich nicht!«
»Aber wir haben diese drei Nächte nicht, Heermeister«, gab Inahwen zu bedenken. »Jeder neue Sonnenaufgang bedeutet für die Menschen Nymaths weitere Schrecknisse und tragische Verluste. Schon jetzt haben wir viel kostbare Zeit verloren.« Sie schaute kurz nach Westen. Dann blickte sie den Heermeister eindringlich an. »Es wird bald dunkel«, sagte sie ernst. »Wir dürfen nicht säumen.«
Bayard tat einen hilflosen Seufzer und ließ den Blick über die Gesichter der anderen schweifen. Es war ihm durchaus bewusst, dass er als Anführer der Gruppe ein Vorbild sein und Zuversicht verheißen musste, doch die Furcht vor dem Abgrund stand ihm deutlich ins Gesicht geschrieben. Endlose Augenblicke des Zögerns verstrichen. Dann wandte er sich erneut an den Wegfinder der Vaughn. »Sind diese verfluchten Uzoma etwa auch da hinüber gegangen?«, fragte er betont provozierend.
»Auch für sie war es der einzige Weg.« Ghan nickte.
»Nun, dann … dann …« Bayard knurrte und ballte die Fäuste. »Beim Barte des Asnar, welch eine Schande«, stieß er schließlich hervor, als müsse er sich selbst Mut zusprechen. »Es kann doch nicht sein, dass dieser Abschaum tapferer ist als ein Kataure.« Entschlossen trat er vor die Brücke und ergriff die Seile. »Möge Gilian, der Herr der Lüfte, den Wind auch weiterhin schweigen lassen«, murmelte er wie ein leises Gebet. Dann atmete er noch einmal tief durch, schloss kurz die Augen und tat den ersten Schritt über den Abgrund.
Rastlos schritt Ylva in ihrer geräumigen Wohnhöhle auf und ab. Die beiden Räume waren durch einen aus dem Fels geschlagenen Durchlass miteinander verbunden. In dem größeren Raum schlief sie, in dem kleineren behandelte sie auf einer schmalen Holzpritsche Verletzte oder Kranke. In den hölzernen Regalen an den Felswänden standen tönerne Tiegel und Töpfe, geflochtene Körbe und allerlei Gerätschaften. Außerdem gab es in dem Raum für die Kranken außer der Holzpritsche nur noch einen Tisch und zwei Stühle.
Von der Decke hingen unzählige Sträuße getrockneter Kräuter herab, die einen würzigen Duft verströmten, und an einem dicken Baumstumpf, den sie stets feucht hielt, wucherte ein blasses Pilzgeflecht, dem eine besondere Wirkung nachgesagt wurde und das nur in der Dunkelheit der Höhlen gedieh. In der Nacht hatte eine der schwarzen haarigen Höhlenspinnen ihr Netz zwischen dem Baumstumpf und einem der Regale gewoben und harrte nun in einem fein gesponnenen Kokon auf Beute. Für gewöhnlich hätte Ylva sie sofort eingefangen und an einem ruhigen Ort ausgesetzt, doch diesmal hatte sie keinen Sinn für die kleinen Nebensächlichkeiten, die den Alltag einer Heilerin ausmachten. Sie war in großer Sorge.
Habe ich richtig gehandelt? Habe ich die Vision richtig gedeutet? Seit dem Morgen stellte sie sich immer und immer wieder dieselben Fragen. Zunächst hatte sie noch gehofft, das bedrückende Gefühl werde mit der Zeit verfliegen, doch je länger sie über die Ereignisse des Morgens nachdachte, desto größer wurden ihre Bedenken.
War die Vision, die sich ihr unmittelbar nach dem Eintreffen der Fremden im Schlaf offenbart hatte, wirklich so eindeutig, wie sie zunächst vermutet hatte? Oder hatte sie gar einen fatalen Fehler begangen, indem sie den Hass der Völker unterschätzte? War am Ende sie es, die in dem Irrglauben, die Völker wieder
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