Das Erbe der Runen 2 - Die Feuerpriesterin
Frauen beim Graben, nachdem er die Pferde versorgt hatte. In dem lockeren Sand das Grab auszuheben war mühsam und viel schwerer, als Anao vermutet hatte. Immer wieder rieselte der Sand von den Rändern zurück in die Grube und füllte diese aufs Neue. Gemeinsam gelang es ihnen schließlich, ein Grab auszuheben, und bald wies nur noch eine flache Erhebung aus rotem Sand auf den Ort hin, an dem die Toten ruhten.
Wanaa sprach zum Abschied ein paar Worte aus dem traditionellen Ritus der Uzoma, dann wandte sie sich um und sah Anao mit einem schwer zu deutenden Blick an. »Jetzt, da wir die Pferde wieder haben, hätten wir sie eigentlich auch mit nach Udnobe nehmen können«, sagte sie ein wenig traurig. »Dort hätten wir sie bei ihren Stammesangehörigen dem ewigen Schlaf übergeben können.«
»Ja, das hätten wir tun können«, erwiderte Anao gedehnt. »Aber wir reiten nicht nach Udnobe zurück.«
»Wie meinst du das?« Wanaa sah Anao verblüfft an. »Nematana hat doch …«
»Nematana ist tot«, erklärte Anao betont sachlich und warf einen Blick zu dem Kurvasa hinüber, der gerade dabei war, das zerstörte Lager nach brauchbaren Gegenständen abzusuchen und sie in den Satteltaschen der Pferde zu verstauen. »Was sie vorhatte, ist nicht mehr von Belang. Man gab uns den Auftrag, die grüne Insel inmitten der Wüste zu suchen, und diesen Auftrag werden wir erfüllen.«
»Bei den schwarzen Blüten des Dion, das ist unmöglich!« Aufgebracht eilte Emo durch die verlassene Halle der Götter auf den Dunkelgewandeten zu. Ihr Gesicht war zorngerötet, und ihr fließendes Gewand bauschte sich unter den schnellen Schritten. Die Wut hatte die göttliche Erhabenheit und die Sanftmut aus ihrem bezaubernden Antlitz verdrängt. Doch auch das tat ihrer Schönheit keinen Abbruch. Im Gegenteil. Erst im heißblütigen Zorn fanden ihr Stolz und ihr hehrer Glanz die Vollendung, und selbst der Dunkelgewandete konnte nicht umhin, die Ausstrahlung der Göttin in diesem Augenblick zu bewundern.
»Der ewige Brunnen ist versiegt!« Zu erzürnt, um sich zu setzen, schritt Emo vor dem Dunkelgewandeten auf und ab. »Wie konnte das geschehen? Der ewige Brunnen versiegt niemals! Von Callugar vor Urzeiten aus Sternenstaub erbaut, speist ihn der Fluss des Lebens in fortwährendem Strom.« Sie blickte ihr Gegenüber aus funkelnden Augen an und wiederholte noch einmal: »Er kann nicht versiegen!«
»Vieles ist geschehen, seit Ihr diese Halle verlassen habt«, gab der Dunkelgewandete zu bedenken. »Der Fluss des Lebens ist ständig in Bewegung. Mag sein, dass er seinen Lauf geändert hat. Ereignisse kommen und gehen, nichts währt ewig. Auch nicht in diesen Gestaden.«
»Unsinn!«, warf Emo zornig ein, ohne im Auf-und-Ab-Schreiten innezuhalten. »Gemessen an der Unsterblichkeit, waren wir nicht länger als einen Wimpernschlag fort. In einer so kurzen Zeit kann sich nicht alles verändert haben.«
»Vielleicht spürte der Fluss die Abwesenheit Callugars und nahm sich das Recht, in seine alten Bahnen zurückzukehren.« Der Dunkelgewandete wusste, dass dies eine kühne These war, doch die Wahrheit durfte Emo keinesfalls erfahren. Den Brunnen zu zerstören war seine erste Tat gewesen, nachdem auch der Letzte der Götter sich schlafen gelegt hatte. Nicht wissend, wie lange sie fortbleiben würden, hatte er es ihnen versagen wollen, dass sie nach ihrer Rückkehr jene erblickten, die sich seiner Macht unterworfen hatten. Den Bann zu lösen, der den Brunnen mit dem silbernen Wasser des Lebensflusses füllte, hatte ihn viel Kraft gekostet, doch am Ende hatte seine erstarkende Macht über die schwindenden Kräfte Callugars triumphiert.
»Aber meine Kinder …« Emo beendete das rastlose Umhergehen und ließ sich auf ihrer steinernen Bank nieder. Nach dem heftigen Zornesausbruch wirkte sie müde und erschöpft. Ihre Bewegungen hatten an Kraft verloren, und sie barg das Gesicht in den Händen.
Der Dunkelgewandete nahm die Schwäche der Göttin zufrieden zur Kenntnis. »Ihr seid müde«, stellte er in geheuchelter Besorgnis fest. »Ich spüre, wie Eure Kräfte schwinden, und möchte Euch noch einmal dringend anraten, Euch wieder zur Ruhe zu begeben. So lange die Menschen hier nicht zum wahren Glauben zurückfinden, könnt Ihr in diesen Gestaden nicht bestehen.«
»Deine Sorge ehrt dich.« Ein Seufzer, leicht wie eine Feder, entfloh Emos Lippen, und sie schenkte dem falschen Wanderer ein göttliches Lächeln. »Es ist tröstlich zu wissen, dass
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