Das Erbe der Runen 2 - Die Feuerpriesterin
wir wandeln hier … nur wir … kein Leben … kein Leben! , riefen sie durcheinander.
Doch die junge Göttin ließ sich nicht täuschen. Wenngleich ihr Rufen unbeantwortet blieb, gewahrte sie doch eine Spur von Wärme – der Wärme eines Lebens, das irgendwo in der Dunkelheit zwischen den Nebeln verborgen lag. Für wenige Herzschläge zögerte sie noch, unsicher, welche Richtung sie einschlagen sollte, dann blieb sie abrupt stehen und befahl den Nebeln mit herrischer Geste: »Weicht zur Seite.«
Der Weg ist dort … dort, nicht hier , tönte es aus den Nebeln zurück.
»Der Weg ist, wohin ich gehe«, beharrte die junge Göttin mit fester Stimme. »Und nun weicht zur Seite, ehe ich vergesse, dass Callugar euch in seiner unendlichen Gnade gestattete, am Fuße des heiligen Berges zu verweilen.« Ohne darauf zu warten, ob sie ihrem Geheiß folgten, verließ die Magun den Pfad zum heiligen Berg und ging mitten in die Nebel hinein.
Sie hörte die Körperlosen entsetzt aufkreischen und fühlte die eisigen Hände der Nebelgespinste auf ihrer Haut, als sie versuchten, sie aufzuhalten. Doch ohne die Magie des dunklen Gottes waren die Nebelarme nichts als nur Rauch, und so setzte sie den Weg unbeirrt fort. Die Ahnung von Wärme leitete sie durch die eisige Kälte des Totenreiches wie ein Lichtstrahl im Dunkeln und führte sie ungeachtet des immer schriller werdenden Protests der Körperlosen schließlich ans Ziel.
»Ajana? Gilians heilige Feder, was ist mit dir?«
Mühsam kämpfte sich Ajana aus der Dunkelheit empor, die sie beim grauenhaften Anblick der dämonischen Fratze überwältigt hatte. Es dauerte einen kurzen Augenblick, bis sich ihre Sicht klärte, dann erkannte sie Keelins vertraute Gesichtszüge, und ihr rasender Herzschlag beruhigte sich.
»Ich … ich weiß es nicht«, murmelte sie und wunderte sich darüber, wie schwer ihr die Worte über die Lippen kamen. Ihr Mund war trocken, ihr Hals schmerzte, und eine seltsame Lähmung lastete auf ihrer Stimme.
… als hätte ein Feuer in ihrer Kehle gewütet …
Angesichts der Furcht erregenden Bilder, die sie gesehen hatte, schien ihr diese absurde Erklärung nur allzu gut möglich, doch den Gedanken behielt sie lieber für sich.
Ein rascher Blick zeigte Ajana, dass sie noch immer in dem Tunnel saß, doch war sie nicht mehr allein. Keelin war an ihrer Seite und hielt sie im Arm. Inahwen und Bayard standen vor ihr. Doch während der Heermeister sie mit sorgenvollem Blick musterte, erkannte sie in Inahwens Miene ein tiefes Entsetzen.
»Was ist geschehen?«, fragte sie unsicher.
»Das wollten wir Euch gerade fragen«, erwiderte Bayard. »Wir hörten Euren Schrei und fanden Euch besinnungslos am Boden.«
»Wie lange war ich bewusstlos?«, wollte Ajana wissen.
»Nicht lange.« Keelin lächelte. »Du kamst sehr schnell wieder zu dir.«
»Du hast versucht, den Mondstein anzurufen«, stellte Inahwen mit unterschwelligem Vorwurf in der Stimme fest. Langsam zog sie ihre Hand aus den weiten Ärmeln ihres Umhangs hervor und reichte Ajana das Amulett.
Ajana hielt erstaunt die Luft an. Es hatte sich verändert!
Nicht das ganze Amulett, wohl aber der Mondstein in seinem Innern. Aus dem milchig weißen Stein mit den vertrauten roten Linien war ein feurig glühendes Auge geworden, in dessen Innerem sich winzige gleißende Lavaströme zu bewegen schienen. Aus dem Stein drang ein etwa armlanger roter Strahl, der beständig nach Norden wies, ganz gleich, in welche Richtung Ajana das Amulett auch wendete.
»Ist das …? Habe ich das vollbracht?«, stammelte Ajana verwirrt. Der Anblick des glühend roten Steins erinnerte sie daran, was sie gesehen hatte, und machte ihr Angst, doch sie verspürte auch einen leisen Stolz, die Anrufung vollbracht zu haben.
»Ihr habt bewirkt, worauf wir alle so große Hoffnungen setzen!« Eine große Erleichterung schwang in Bayards Stimme mit. »Nun kann uns nichts mehr aufhalten. Wir werden diese verfluchte Priesterin finden und ihr zeigen, was es heißt, den Zorn der Vereinigten Stämme herauszufordern.«
… diese verfluchte Priesterin finden. Ajana überlief es eiskalt, als sie sich an die dämonische Fratze erinnerte, die ihr in der Vision gegenübergestanden hatte. Doch schlimmer noch als der Anblick waren die Worte, die sich tief in ihr Gedächtnis gebrannt hatten: »Ich erwarte dich!«
»Was ist los?« Keelin schien zu spüren, dass Ajana etwas bewegte, und er schaute sie besorgt an. »Du zitterst ja am ganzen
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